Crime School: Lektion 7

Die Helden des klassischen Detektivromans sind sowohl Meister der Induktion als auch der Deduktion. Prinzipiell unfehlbar, agieren sie in einem Ambiente, das scheinbar nur aus Indizien besteht, die darauf warten, gedeutet zu werden. Machen die Helden denn doch mal einen Fehler, gehört dies zur Dramaturgie des Romans, nicht aber zum Wesen jenes Über-Ich, zu dem der Held (manchmal auch eine Heldin) beim Leser geworden ist.

Von solcher Perfektion kann beim Detektiv der Hammett/Chandler – Schule keine Rede sein. Grübler, zynisch gewordene Moralisten, schlecht gekleidete Eckensteher, die was auf die Fresse kriegen. Der Triumph ist für sie stets auch eine Niederlage, eine Niederlage gegen die Übermacht aus Dummheit, Korruption und Rücksichtslosigkeit. Verkörpert der allwissende Held das Über-Ich, so der Detektiv, dessen Zynismus eine Mischung aus enttäuschter Menschenliebe und Weltekel ist, das psychoanalytische ES, die dunkle Energie.

Und wo bleibt das Ich? Dieser mal pfeifende, mal hängenden Kopfes durch die Alltäglichkeit bewegte Körper, der sich über den Faktor Arbeit definiert, sie zugleich liebt und verachtet, der stets aufs Neue mit „Aufgaben“ konfrontiert wird und kein besseres Mittel zu ihrer Erledigung kennt als die ewig gleichen stupiden Handgriffe und Fragen?

Kein Zweifel: Wenn wir alle über Nacht zu Detektiven in Kriminalromanen würden, dann fänden sich weit über 90% von uns in dieser letzten Kategorie wieder. Keine Übermenschen, keine Zerrissenen – nein, schlichte Arbeiter, Buchhalter, Klinkenputzer der Verbrechensaufklärung wären wir – so wie Martin Beck und die Seinen in den zehn Romanen von Sjöwall / Wahlöö.

Zugegeben: Es gibt nicht nur drei Arten von Kriminalromanen, und das mit der Analogie zu den Freud’schen Instanzen Über-Ich, Es und Ich ist mir spontan eingefallen, während ich die ersten Zeilen in meinen PDA tippte. Aber mit Psychologie hat es schon etwas zu tun, eine vielleicht verborgene Saite unserer Existenz gerät in Schwingungen, wenn wir Martin Beck und seine Crew auf dem langen Weg zur Lösung einer Aufgabe begleiten.

Denn diese Männer sind keine Helden. Sie sind Arbeiter, Beamte, ihr Metier ist die Kleinarbeit, das Sich-Verrennen in Sackgassen, die bittere Enttäuschung nach anfänglicher Euphorie, der verzweifelte Kampf gegen bürokratischen Starrsinn – und die Resignation, wenn alles vorbei und nur scheinbar „gut“ ist. Wenn wir die Erfüllung des Kriteriums „realistisch“ an die Bedingung knüpfen, dass etwas in einem Text unmittelbar mit dem Leben der Leser zu tun hat, dann ist die banale Beschreibung der so unspektakulären Arbeit des Stockholmer Teams von einer kaum noch zu überbietenden Wahrhaftigkeit.

Gewiss arbeiten die wenigsten von uns im Metier der Verbrechensbekämpfung; aber die Schilderung dieser Arbeit, bei der ein Problem Stück für Stück und auf zum Teil entnervenden Umwegen gelöst wird, ist allgemeingültig und reicht weit über das Feld der Arbeit hinaus. Im Grunde arbeiten Beck und seine Leute so, wie wir selbst im täglichen Leben versuchen, uns zu orientieren, Meinungen zu bilden, uns einer Überzeugung zu vergewissern oder sie zu revidieren. Wir klären keine neunfachen Morde in Linienbussen auf; aber das fleißige Team der kleinen grauen Zellen legt genau wie die schwedische Sonderkommission Tag für Tag ein Puzzle aus vielen Erlebnisfetzen zusammen, um sich ein Bild von der Welt zu verschaffen, sich Dinge zu erklären, die eigentlich unfassbar sind und mit der Welt ins Reine zu kommen, auch wenn man dunkel ahnt, dass Lösungen immer faule Kompromisse sind.

Die Schilderung dieser Arbeit ist es nicht allein; es sind erst die Charaktere der Arbeiter, die uns berühren. Über die Jahre hinweg sind es fünf Personen, die uns immer wieder begegnen: das Gedächtniswunder Fredrik Melander, der immer, wenn man ihn braucht, auf dem Klo sitzt; Einar Rönn, der durchschnittliche, aber zuverlässige Beamte; Gunvald Larsson, Abkömmling aus gutem Hause, brutal und dennoch mitleidsfähig; Lennart Kollberg, aufbrausend und am Ende zu sensibel für diesen Beruf; Martin Beck selbst: unglücklich verheiratet, Einzelgänger, auf seinen Beruf fixiert und eher politisch indifferent, später, weil neu verliebt, gelassener und auf seine bescheidene Art glücklich- Zusammen stehen sie für einen komplexen Organismus, ein Individuum mit all seinen möglichen seelischen und emotionalen Zuständen.

Diesen Menschen bei der Arbeit zuzusehen bedeutet sich selbst ein bisschen besser kennenzulernen. Hier liegt die Magie dieser Romane, hier werden die Wirklichkeit der Texte und die Wirklichkeit der Leser eins.

In der nächsten Lektion werde ich versuchen, die aus dem beiden Hauptelementen „gesellschaftliche Wirklichkeit“ und „psychische Wirklichkeit“ vorangetriebene Dramaturgie der Martin-Beck-Romane etwas genauer zu analysieren und ihre Dynamik zu beschreiben. Bleibt dran, Leute, meckert, lobt, wünscht oder verwünscht, wie immer an diese Adresse.

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