Crime School: Lektion 8

Die Dramaturgie der ersten sieben Beck-Romane ist simpel und stets die gleiche: Ein Verbrechen geschieht und wird in mühevoller Kleinarbeit aufgeklärt. Am Ende steht indes nicht die Auflösung als Selbstzweck. Wenn das letzte Rätsel gelöst ist, haben wir eine Person in ihrem ganzen Elend kennengelernt, manchmal auch mehrere, Protagonisten einer Gesellschaft, die sich von Roman zu Roman mehr entblößt und schließlich jene Konturen zeigt, die es den Autoren in den Romanen acht bis zehn ermöglicht, sie zum Schauplatz einer Groteske zu machen, die nur noch Monster und Psychowracks gebären kann.

Stellen wir uns für einen Moment vor, dieses zweifelsohne hehre und tragfähige literarische Konzpt wäre mit anderen Mitteln als denen des Kriminalromans realisiert worden. Martin Beck und die Seinen als Sozialarbeiter etwa oder, krasser, als Mitarbeiter der Personalabteilung eines Unternehmens, deren Aufgabe es ist, geeignete Arbeitskräfte zu rekrutieren.

Kein Zweifel: Auch ohne den Einsatz „genreüblicher“ Mittel hätten Sjöwall / Walhöö ihr Konzept zufriedenstellend realisieren können. Auch der mögliche Einwand „Ja, schon, aber das wäre reichlich langweilig geworden“ ist zunächst einmal unberechtigt. Langweilige Krimis sind Legion, aufregende „Alltagsgeschichten“ aber auch nicht so selten.

Ein Argument für die Form des Kriminalromans hängt mit der in einer der letzten Lektionen vorgestellten „Schnittstellenthese“ zusammen. Man hat einen Stoff und möchte, dass er mit den Lesern kommuniziert. Das funktioniert natürlich a) statistisch gesehen am besten, wenn es möglichst viele Leser gibt und b) dieser Stoff in einem möglichst dramatischen, unterhaltenden Gewand erscheint.

Aber betrachten wir uns einige Beispiele. Im ersten Roman, „Die Tote im Götakanal“, führt die Arbeit der Mordkommission zur Entmittlung des Täters, eines sehr unauffälligen, gar netten Mannes, dessen Einstellungen zu Frauen und ihrer Sexualität nicht nur finsterstes Mittalalter ist, sondern darüber hinaus psychotisch gefestigt. Sjöwall / Wahlöö gelingt es hier, den Zustand der Gesellschaft im Zustand einer einzelnen Person zu fokussieren: Das Krankhafte hinter der Fassade der pausenbackigen sichtbaren Wirklichkeit. Hier ist die Wahl des Genres „Krimi“ geradezu zwingend. Nicht, weil man diesen Zustand nicht auch mit anderen Mitteln darstellen könnte, sondern weil nur der Krimi auf natürliche Weise jene dramaturgische Kurve zu zeichnen vermag: Ausgehend vom Unfassbaren (die Tat) über die Normalität täglicher Arbeit (die Ermittlungen) hin zu ihrer finalen Vermengung, Unfassbares und Alltag in einer geradezu gespenstisch fruchtbaren und innerhalb der Gesellschaft lebensfähigen Symbiose.

Ähnlich, wenngleich im Resultat genau umgekehrt verhält es sich in „Und die Großen lässt man laufen“. Ein zwielichtiger Industrieller wird während eines Arbeitessens in einem Restaurant erschossen. Beck und Co. glauben den Täter im Milieu des Toten ermitteln zu können, die oberste Polizeiführung sähe einen “normalen” Täter lieber. Auch hier das Unfassbare – die Normalität der Arbeit – und ihre Vermengung. Nur dass hier nicht das Krankhafte hinter Normalität versteckt wird, sondern die Normalität sich als Kern des Krankhaften offenbart. Der Täter ist Opfer einer brutalen Leistungs- und Gewinnmaximierungsgesellschaft, die Tat eine zufällige Aktion eines im Grunde nicht gewalttätigen, dafür jedoch am Zustand der Gesellschaft zerbrochenen Mannes.

Die Beck-Romane sind durchgängig charakterisiert vom dramaturgischen Muster des Ineinandergreifens von Normalität und A-Normalität. Bereits die Arbeit an sich und die Zeichnung des ermittelnden Personals leben von diesem Widerspruchspaar, das doch erst die Dynamik der Handlung erlaubt.

Anders ist es in den letzten drei Romanen, wo das Schema Tat – Ermittlung – Aufklärung in zwei entscheidenden Punkten modifiziert wird. Zum einen dadurch, dass nicht mehr nur ein einziges Verbrechen geklärt wird. Das „Böse“ greift ineinander über, man könnte auch sagen: die Mischungen aus Normalität und A-Normalität mischen sich mit anderen, ähnlichen Konglomeraten. Zum anderen löst sich das Team und damit auch das Arbeitsprozedere auf. „Verschlossen und verriegelt“ etwa sieht Beck als Solisten, während seine Kollegen hinter Bankräuber herjagen. Das sehr kunstvolle Verknüpfen dieser Handlungsstränge erschafft nun nicht mehr Protagonisten, die auf die Gesellschaft weisen. Die Gesellschaft als Geflecht aus Normalität und A-Normalität selbst fabriziert solche Protagonisten.

Hinzukommt eine weitere Spezialität des Genres: das „Whodunnit“. In den ersten sieben Romanen kannte man entweder den Täter von Anfang an oder lernte ihn lediglich am Ende des Buches kennen. Nun aber, vor allem in „Verschlossen und verriegelt“, ist auch der Rätsellöser gefragt und Beck selbst nähert sich der Position des „Über-Ich“, das dem staunenden Täter seine Tat minutiös schildert (was aber nicht der Clou des Romans ist; der sei im Interesse aller, die den Roman sensationellerweise nicht kennen sollten, hier ausgespart).

Fassen wir noch einmal zusammen: Das Konzept der Sjöwall / Walhöö – Romane ist zunächst unabhängig vom „Genre“ Krimi zu sehen. Bei der Frage der Umsetzung allerdings (und nur darum kann es in einer Kritik gehen; „Ideen“ oder „Botschaften“ sind erst einmal nichts weiter als Treibstoff für die Literaturproduktion. Allein betrachtet sind sie nichts wert. Jeder Idiot kann „tolle Ideen“ haben.) zeigt sich, wie unverzichtbar die Genrewahl ist. Sie schafft Schnittstellen zum Leser (und sei es nur, um diesen bei der Stange zu halten, weil es „so spannend!“ ist) und formt die Spannungsbögen.

Natürlich: Es ginge auch anders. Ich behaupte nach wie vor, dass die Grundkonzepte von Sjöwall / Walhöö auch ohne das Krimigerüst tragfähig sein könnten. Die Schwierigkeiten wären indes enorm. Es wäre etwa so, als würde ich mit dem Zug von Frankfurt nach Berlin fahren wollen und dabei wie selbstverständlich Zwischenaufenthalte in London, Peking und Melbourne einplanen. Reizvoll, gewiss, aber ein wenig umständlich.

So. Wir speichern diese Ausführungen jetzt auf unserer Festplatte und werden auf die Ergebnisse sicher noch das eine oder andere Mal zurückkommen. Die nächsten Lektionen stehen aber für einen kleinen Kurswechsel. Es geht um den Krimi im digitalen Zeitalter. Multimedia-Krimi? Hypertext-Krimi? Wie sieht’s aus? Wo liegt die Zukunft? Gibt es überhaupt eine? Da es hier um das Wesen von (Krimi-)Literatur geht, passt es wunderbar in unseren Unterricht.

Ach ja: Einige von euch haben ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht. Wir werden die bisher eingegangenen und hoffentlich noch eingehenden Arbeiten selbstverständlich hier vorstellen und uns Gedanken über das Genre machen. Die Schuladresse besteht weiterhin.

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