Crime School: Lektion 11

Ob mit Hyperlinks vernetzt oder multimedial aufgebrezelt: Die digitale Inszenierung eines Krimis scheint nur quantitativ zu funktionieren. Es werden zusätzliche Informationen und Interaktivität bereitgestellt, aber der eigentliche Textkorpus und die Art, wie ich ihn als Leser erkunde, ändert sich nicht.

Es gibt andere Beispiele. Die Hyperlinktechnik als Schlüssel, einen Text zum Labyrinth zu machen, durch das ich mich orientierend taste. Der Autor Matthias Penzel etwa hat Teile seines Romans „TraumHaft“ so verlinkt, dass man durch den →Text „surfen“ kann. Das funktioniert. Aber nur, weil schon der zugrundeliegende „Papiertext“ nicht nur als kontinuierlich zu lesender Fließtext konzipiert wurde, sondern es zudem erlaubt, quasi kreuz und quer gelesen zu werden. Penzels Roman ist das gelungene Beispiel einer Prosa, die sowohl eine Geschichte erzählt als auch einen „Raum“ absteckt, in dem ich mich als Leser ohne Rücksicht auf die Gesetze der storygebundenen Chrono-Logik bewegen kann. Aber: Penzels Text ist eben kein Krimi. Er ist ein „Rockroman“, der ein individuelles Schicksal und die allgemeinen Parameter (das Rock-Business) gleichermaßen aufzeichnet. Penzel gelingt es mit „TraumHaft“, sowohl die Lesezeit zu manipulieren (d.h. der Leser muss nicht am Anfang beginnen und mit dem Ende aufhören) als auch die erzählte Zeit. Die Story ist die Story, aber sie ist eben nur ein Teil des Ganzen. Ein Erzählkontinuum wird als Alternative geboten, ist aber nicht zwingend.

Ganz anders beim Krimi. Könntet ihr euch vorstellen, einen Krimi kreuz und quer zu lesen? Mittendrin anfangen, dann kurz den Schluss überfliegen, wieder ab durch die Mitte und schließlich mit dem Anfang aufhören? – Ich kann es nicht.

Wohlgemerkt: Wir reden im Moment von der Lesezeit. Sie ist an die Story gekettet, der Leser kann bei seiner Lektüre gar nicht anders, als sich an die Vorgaben zu halten. Tut er es nicht, liest er keinen Krimi mehr, denn seine Lese-Art zerstört das, was die Lesevorgabe, dieses von der ersten bis zur letzten Seite, erst ermöglicht: die Spannung, den dramaturgischen Bogen.
Kreuz-und-quer-lesen vermag eine neue Spannung aufzubauen, und hier sind Hypertexte eine neue und reizvolle Geschichte. Übrigens brauche ich nicht unbedingt die Krücke „Digitaltechnik“, um Zeitgesetze im Roman außer Kraft zu setzen. Penzel demonstriert es auch in der Papierform von „TraumHaft“, und das berüchtigtste Beispiel für diese Technik ist „Finnegans Wake“ von James Joyce, dessen „Ulysses“ dagegen wie ein Heftchenroman daherkommt.

Aber diese Technik ist wider die Natur des Krimis. Womit wir uns endlich der Frage widmen sollten, was denn einen Krimi von einem Stück „Normalliteratur“ unterscheidet.

Literatur hat drei Ebenen: den Inhalt, die Sprache und die Form. Über die Sprache brauchen wir an dieser Stelle nicht zu reden. Sie ist frei wie ein Vogel und unterliegt keinen Genreregeln. Inhalt und Form durchaus.

Ein Genre definiert sich dadurch, dass ihm inhaltlich und / oder formal gewisse Regeln und Beschränkungen eigen sind. Auch über die inhaltlichen brauchen wir an dieser Stelle nicht viele Worte zu verlieren, sie liegen auf der Hand. Es geschieht ein Verbrechen und man beschäftigt sich, wie auch immer, damit. Dies kann als Detektivroman, Spionagekrimi, Whodunnit etc. geschehen.

So, jetzt sollten wir aufpassen. Ich habe ganz bewusst nicht geschrieben: „Dies kann IN FORM eines Detektivromans etc.“ geschehen, denn hierbei handelt es sich nicht um eine FORM, sondern um Inhalt. Form in der Literatur bezieht sich auf die Konstruktion eines Textes, auf seine architektonische Komponente. Dies zu beachten, ist für die folgenden Ausführungen von großer Bedeutung.

Zuvor noch dies: Form, Sprache und Inhalt agieren nicht unabhängig voneinander, in keinem literarischen Werk. Sie interagieren und erzeugen „etwas“, das man „Eindruck auf den Leser“, „Magie“ nennen könnte. Bei Krimis hat dieses Interagieren eine zusätzliche Aufgabe: Es soll Spannung / Suspence erzeugen.

Welches sind nun formale Kriterien für einen Roman? Ich kenne nur ein einziges: die Zeit. Alles ist von ihr abhängig, und die Art und Weise, wie sie funktioniert oder auch nicht funktioniert, ermöglicht es uns überhaupt erst, das „Genre Kriminalroman“ als solches aus dem großen Ganzen Literatur zu extrahieren.

Wenn wir den Begriff „Genre“ also eingrenzend als etwas definieren wollen, das sich durch spezielle Regeln und Eigenarten von der „Normalliteratur“ unterscheidet, dann ist diese Kettung an die Zeit und an die Story sicher das erste Merkmal für einen „Krimi“.
Aber wir müssen unterscheiden zwischen Lesezeit und erzählter Zeit. Ein guter Krimi funktioniert eben nicht unbedingt nur als die chronologisch „reale“ Wiedergabe von Ereignissen. Was wir, nebenbei, aus dem Fernsehen kennen, wenn man uns mit „Rückblenden“ beglückt. Dazu aber mehr in der nächsten Lektion.

Ein schönes und wirklich gelungenes Beispiel für das Arbeiten mit der Chronologie der Ereignisse ist Arnaldur Indridasons „Todeshauch“. Man findet Leichenteile und beginnt sie auszugraben, um die Identität des Toten bestimmen zu können. Leider hat man ein Archäologenteam mit dieser Arbeit beauftragt, die sich entsprechend quälend lange hinzieht. Diese Arbeit wird nun abwechselnd mit der Vorgeschichte des Verbrechens erzählt. Wir wissen nicht, ob es wirklich die Vorgeschichte ist, wir wissen auch nicht, wer am Ende sein Leben lassen muss – doch je länger der Roman dauert, desto klarer wird dem Leser, dass hier zwei Zeitstränge quasi aufeinander zu erzählt werden und irgendwann einmal kollidieren. Der ebenso geniale wie simple Trick des Autors besteht eben darin, die Arbeit der Leichenbergung hinzuziehen. Die Spannung steigert sich von Kapitel zu Kapitel.

Aber, da ein Story erzählt wird, ist natürlich auch hier das Diktat der Zeit nicht außer Kraft gesetzt. Es ist, in seinen mehr oder weniger engen Grenzen, nur manchmal etwas flexibler, doch die Bindung zwischen Lesezeit und erzählter Zeit bleibt erhalten.

Ich habe im Moment das Gefühl, das wir in unserer Crime School an einem entscheidenden Punkt angelangt sind. Zum einen, weil wir uns dem Begriff „Genre“ nicht mehr auf der inhaltlichen Ebene nähern, zum anderen, weil die Chrono-Logik als große Klammer noch längst nicht genau genug betrachtet wurde.

Über eines sollten wir uns jedenfalls im Klaren sein: Auch wenn ich versuche, das Genre Krimi zu definieren, es also aus dem Kontext „Normalliteratur“ herauszulösen, bedeutet das nicht, dass innerhalb eines Krimis die üblichen Charakteristika von Literatur keine Geltung mehr besäßen. Die Möglichkeiten eines Krimis sind also nach wie vor die Möglichkeiten eines „Normaltextes“, nur eben mit der Einschränkung, dass bestimmte Vorgaben ihren Einsatz reglementieren.

Wir befinden uns im Moment am Anfang einer spannenden Geschichte. Schön wäre es, wenn die Schüler selbst etwas dazu beitrügen, auf diesem Weg weiterzugehen. Kennt ihr besonders originelle Beispiele, wie in Krimis mit Zeit, also Erzählkontinuität gearbeitet wird? Falls ja, dann gebt mir hier Bescheid. In der nächsten Lektion werden wir uns dieses Phänomen Zeit und wie es auf die Möglichkeiten von Krimitexten einwirkt, an ausgewählten Beispielen näher betrachten. Sich über die Möglichkeiten von Texten zu unterhalten, seien sie nun genregebunden oder nicht, Papier oder digital, bedeutet Analysearbeit. Ich weiß, das passt nicht in das Bild des „free-wheeling poet“, aber ich halte es da mit einem berühmten Bewohner der Südheide, der seine Prosa zuerst zu berechnen pflegte, bevor er sie niederschrieb.

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