Crime School: Lektion 12

Arthur Conan Doyle hat die Blaupause vorgegeben: Ein Verbrechen geschieht. Sherlock Holmes übernimmt. Er recherchiert. Verschafft sich Einblicke in die Vorgeschichte. Sammelt die Informationen in seinem phänomenalen Gedächtnis, einer Hochleistungsmaschine für treffende Schlussfolgerungen. Es dauert nicht lange, und der Fall ist geklärt. Dem wie immer sprachlos staunenden Dr. Watson (so sind sie halt, diese Akademiker), wird am Ende am heimischen Kaminfeuer haarklein erklärt, wie alles zusammenpasst.

Selbstredend ist Holmes’ Genie zu einzigartig, als dass es bei der Klärung eines Falles in Umwegen verzetteln würde. Seine Nachfolger im 20. Jahrhundert haben es leider schlechter getroffen: Sie graben sich durch Berge disparater Informationen und stellen erst nach deren korrekter Auswertung jene Kausalketten her, die zur Lösung des Falles führen.

Unverzichtbar ist hier die „Chronologie der Ereignisse“, und es ist sicher kein Zufall, dass in Krimis meist die chrono-kausale Ereigniskette am Ende des Romans repetiert wird. Dieser „Zeitstrahl“ ist wichtig: Weil Person B. zum Zeitpunkt X. dieses und jenes gesagt hat, kann sie Person C. zum Zeitpunkt Y. nicht getötet haben, dafür jedoch war Person D. zum Zeitpunkt Z… Es dem Leser noch einmal in die richtige Reihenfolge zu bringen, ist eine letzte Dienstleistung des Autors. Falsche Fährten, Unmaßgebliches etc. bleibt außen vor oder wird nur am Rande erwähnt, wenn es für den korrekten Verlauf von Bedeutung war.

Verfolgen wir noch einmal, wie in Krimis Zeit als Kitt des Kausalen entsteht. Sowohl für den Ermittler als auch für den Leser ist der Fall zunächst eine große, unordentlich gepackte Kiste voller Informationen. Etwas ist geschehen, und es macht keinen Sinn. Personen tauchen auf und müssen abgeschätzt, eingeordnet werden. Ereignisse, losgelöst von jeglichem kausalen Bezug, müssen ihren Platz in der Kette finden. Warum wirft Lady Carlsworth ihrem Butler James diesen ängstlichen Blick zu? Welchen Sinn hat es, dass der Ermordete im Telefonbuch den Namen „Ludger Menke“ angestrichen hat? Ein Verdächtiger? Oder wollte er sich nur fernmündlich über einen falschen Link beschweren?

Ich habe bei der Analyse der Sjöwall / Wahlöö – Romane schon einmal darauf hingewiesen, wie reizvoll es für den Leser sein kann, diese Ermittlungsarbeit, die zugleich auch immer Arbeit an Chronologie, Kausalität und Sinnhaftigkeit ist, zu verfolgen. Sie setzt etwas in uns in Schwingungen, erinnert uns daran, dass auch unser Alltag „Ermittlung“ in diesem Sinne ist. Das Leben eine große, unordentliche Kiste voller zerstückelter, vager, mehrdeutiger Informationen, gefährlich, weil unbekannt, zumeist von geringem Unterhaltungswert, weil monoton und redundant. Das Leben: die Suche nach Sinn, Kausalität, zeitlicher Ordnung – und das Ganze spannend, nervenaufreibend und, so jedenfalls mag’s die Mehrheit, mit einem guten und sittenkonformen Ende.

Krimis treffen also einen Nerv. Sie sind nicht nur hinsichtlich der Lesezeit an Chrono-Logik gekettet, sie stellen auch Chronologie her. Und je „haschierter“ die erzählte Zeit ist (ein Ausdruck, für den ich mich übrigens bei Schüler Bernd bedanke), desto notwendiger und reizvoller ist es, die Herstellung der Chrono-Logik als Leser zu verfolgen.

Es gibt Ausnahmen, Kriminalromane, die gegen diese Regel verstoßen. Spontan erinnere ich mich an Carlo Emilio Gaddas „Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana“, wo genau dieses Unterfangen, einen Fall zu klären und somit die Ordnung der Ereignisse wiederherzustellen, „misslingt“. Gewiss mag es einem naiven Leser, der sich vom Titel des Buches zur Lektüre dieses vermeintlichen „Krimis“ verführen lässt, so ergehen, wie einem unbekannten Rezensenten bei Amazon, der sich beklagt:

„Die „Spur“, die schlußendlich verfolgt wird, läßt den Leser ratlos zurück. Nachdem ich mich Stunden um Stunden durch diesen Wälzer gequält hatte, hatte ich nicht das Gefühl, irgendeinen nennenswerten Gewinn daraus ziehen zu können.“

Gaddas „Gräßliche Bescherung“ verliert seinen Krimi-Anspruch und wird zu einem faszinierenden Nur-Roman, den ich, je weiter er fortschreitet, nicht mehr als Geschichte wahrnehme, sondern als Zustandsbeschreibung. Immer mehr fallen die Ereignisse aus der Zeit, der Kausalität, der Sinnhaftigkeit. Ich lese zwar weiterhin von vorne nach hinten, verliere jedoch den Bezug zu dieser Lese-Zeit-Richtung. Das Versprechen einer Chrono-Logik ist jedoch weiterhin präsent, kann aber nicht eingelöst werden.

Auch die in früheren Lektionen behandelten „Nicht-Krimis“, Nabokovs „Lolita“ und Raabes „Stopfkuchen“, arbeiten mit den Zeit-Gesetzen des Krimis auf ihre eigene Weise. Ganz seltsam ist es beim „Stopfkuchen“. Hier wird nicht die Chronologie des Verbrechens entwickelt, sehr wohl aber die Chronologie (sprich auch die Kausalität und Sinnhaftigkeit) einer falschen Schlussfolgerung, mithin eine nicht der Chrono-Logik entsprechenden Kausalkette.

Bei der „Lolita“ ist die (Krimi-)Handlung erkennbar Fiktion in der Fiktion. Die von ihr erstellte Chrono-Logik dient dazu, die große unordentliche Kiste einer psychischen Extremsituation zu beschreiben und zu erkunden. Was also hier aufgeklärt wird, ist nicht der Fall selbst, sondern die Frage, warum es überhaupt einen „Fall“ geben muss.

So, genug für heute. Beim nächsten Mal wollen wir diese Gedanken fortführen und mit mehr Beispielen füttern. Bis dahin: Lernt fleißig und gebt euren Senf hier dazu.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert