Toll. Die Realismusdebatte hat nun auch den Kriminalroman entdeckt. Wirklich toll? Ja und nein. Ja, weil man auch darüber mal reden sollte, nein, weil da ein Fass aufgemacht wird, das du nicht mehr zukriegst. Aber was solls. Im Folgenden ein paar Originalzitate zum Problemkreis „Krimi und Realität“.
Begonnen sei mit einem Auszug aus einem → „Welt“-Artikel von Anne Chaplet:
„Literatur bildet nicht Wirklichkeit ab, sonst wäre sie Kolportage. Sie verdichtet Realität, höchstens. Vor allem kennt sie keinen Herrn – weshalb mir scheint, der Verweis auf die Realitätsnähe eines Krimis ist nichts als der gängige Vorwand für den verklemmten Krimileser. Das Genre selbst hat ihn nicht nötig.
Ein guter Roman mit Spannungsbogen kann alles sein, was uns als Literatur seit dem Gilgamesh-Epos berührt. Er ist eine Versuchsanordnung, in der es um das Beste und die Bestie im Menschen geht: man setze sie existentiellem Streß aus – Krieg, Mord und Totschlag – und schaue, wer den Stoff zum Helden hat und wer sich als Schurke entpuppt. Entgegen dem Verkaufsargument einiger Krimiautoren leben wir, verglichen mit früheren Jahrhunderten, in außerordentlich friedlichen Zeiten. Dabei brauchen wir den existentiellen Konflikt, der uns den anderen erkennen läßt – und sei es in der Literatur. In diesem Sinn kann ein Krimi in der Tat der Gesellschaftsroman der Gegenwart sein.“
Horst Eckert, mit seinem angeblichen „Schlüsselroman“ „617 Grad Celsius“ in die Kritik geraten, postuliert in einem →Aufsatz:
„Die Maxime von Kriminalliteratur lautet: Die Handlung ist zwar frei erfunden, könnte sich aber so zutragen. Diese Art von Wahrhaftigkeit trägt zur Qualität des Krimis bei. Fantasy und Science Fiction dürfen verrückte Visionen entwerfen, Horror darf Tote aufwecken. Der Krimi hat auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Seine Figuren müssen glaubhaft sein und der Plot nicht nur in sich nachvollziehbar, sondern auch dem Vergleich mit der Wirklichkeit standhaltend. Dass die Leser dies erwarten, liegt in der Definition des Genres begründet.
Natürlich hat Anne Chaplet Recht: Kriminalschriftsteller bilden die Wirklichkeit nicht ab, sondern schaffen ihre eigene. Die Dramaturgie ihrer Erzählungen folgt nicht den Vorschriften der Strafprozessordnung. Die Charakterisierung der Täter nicht der Sozialstatistik. Doch die Schilderung bliebe schablonenhaft, wenn sie auf die Authentizität wesentlicher Handlungselemente und die Glaubwürdigkeit der Charaktere verzichtete. Zwangsläufig erfahren die Leser Kriminalliteratur als Kommentar auf das Leben. Als Autoren von Gesellschaftsliteratur bedienen wir diese Erwartung. Realismus ist unser Metier.“
Stichwort „Wahrhaftigkeit“. Wohl, da sind sich Chaplet und Eckert einig, Fiktion, aber mit der Realität in Einklang zu bringen. Ähnlich hat schon Friedrich Ani 2004 in einer →Befragung geantwortet:
„Ich bediene mich auf dem Marktplatz Gegenwart, daheim mache ich Fiktion darauf. Aber die Figuren sollten schon in einer wahrhaftigen Welt existieren, auf die man allerdings keine reale Straßenkarte legen kann.“
Interessant scheint mir bei Chaplets und Eckerts Äußerungen vor allem die Motivation zu sein, das Thema überhaupt anzusprechen.
Chaplet beklagt in ihrem Artikel die fehlende Wertschätzung für den Krimi als solchen, sowohl bei der Literaturkritik als auch bei den Lesern. Diese „Verklemmtheit“ korrespondiere mit einer Verklemmtheit bei den Autoren, die in der Belehrung ihr Heil suchen und sich deshalb dem „sozialkritischen“ Feld zuwenden. „Realismus“ als Bonbon für ignorante Kritiker und Leser also.
Eckert hingegen hat seinen Aufsatz aus aktuellem Anlass geschrieben, denn sein Roman „617 Grad Celsius“ wird, wie gesagt, von einigen anderen „Verklemmten“ als „Schlüsselroman“ passend zum derzeitigen Wahlkampf in NRW gelesen. Er relativiert den in der Tat naiven Begriff „Wirklichkeit“, der solchen Spekulationen zu Grunde liegt. „Die Handlung ist zwar frei erfunden, könnte sich aber so zutragen.“: „realitätskompatibel“ sei sie ergo, wobei es Aufgabe des Lesers sein muss, diese Verträglichkeit zu verifizieren, indem er die Fiktion mit seinem eigenen Leben vergleicht.
Denkt mal drüber nach. Weitere Materialien folgen, wenn sie vorliegen.