Das ist schon merkwürdig. Wir haben Anfang und Ende eines Krimis, wir haben eine Konstruktion, die das Funktionieren der Erzählperspektive(n) regeln soll – und jetzt soll plötzlich schon „die Sprache“ abgehandelt werden. Wie denn das?
Schon recht. Um uns detailliert über Sprache zu unterhalten, brauchen wir die Sprecher. Jeder von ihnen (bitte um Verzeihung, dass ich jetzt nicht jedesmal auch noch „Sprecherin“ etc. schreibe; „Sprecher“ ist hier mal geschlechtsneutral) wird, sobald „ich“ ins Spiel kommt, so reden und denken, wie es seine Charakterisierung entspricht. Das sollte einleuchten. Die auch nur kursorische Überprüfung von Krimis jedoch lehrt uns eines Besseren.
Ein Roman, in dem aus der Ich-Perspektive erzählt wird, steckt zumeist in einer Klemme. Nehmen wir eine ganz alltägliche Situation: Ich gehe zum Kiosk und kauf mir eine Wurst. Wie könnte man das schreiben?
„Ich verließ das Haus durch den Hinterausgang. Es regnete. Ich klappte den Kragen meines Mantels hoch, was nichts weiter als ein Reflex war, eine hilflose Geste, denn es regnete stark. Die Straße war menschenleer, wenn man davon ausgeht, dass Kinder keine Menschen sind, sondern schreiende Monster, und ich ging davon aus, denn ich war wütend auf die ganze Welt. Am Kiosk lachte mir das Fräulein entgegen, und ich lachte zurück. Hatte nichts zu bedeuten. Ich sagte: Ne Rote, und sie machte sich ans Werk.“
Zunächst: Ich habe geschrieben, wie ich die Wohnung verlasse, in welcher Stimmung ich bin, wohin ich gehe, was ich dort tue. Ich habe es natürlich für den Leser geschrieben, nur für ihn, denn ich persönlich kenne keinen Menschen, der sich unter dem Produzieren solcher Gedanken auf den Weg machen würde, einer Wurst habhaft zu werden. Ergo: Die Ich-Perspektive ist eine verkappte Er-Perspektive, und tatsächlich könnte man in diesem Text das „Ich“ locker durch das „Er“ ersetzen, ohne auch nur eine Spur von –naja, nennen wir es Atmosphäre zu verlieren. Die einzige Alternative wäre ein „Ich“, das versuchte, wirklich das wiederzugeben, was im Moment der Handlung in ihm vorgeht – und das selbstverständlich in einem angemessenen, d.h. wohl nicht „literarischen“ Sprachstil. Diese Alternative jedoch wäre für ein literarisches Werk untauglich, das mit den Lesern kommuniziert und ihm Informationen gibt, wie man sie sich selbst nicht zu geben braucht.
Würden wir nun den obigen Text konsequent in der dritten Person Singular halten, stünden wir vor einem anderen Dilemma. Dem nämlich, dass dann die Stimme des Erzählers uns Intimitäten aus der Gedanken- und Gefühlswelt der handelnden Personen mitteilte, die nur diese wissen und ergo formulieren können („Er war wütend auf die ganze Welt.“)
Auf was ich mit diesen Ausführungen vorbereiten will, ist die Sensibilität, die wir bei der sprachlichen Umsetzung der jeweiligen Erzählperspektive walten lassen sollten. Unsere Sprache muss dehnbar sein. Eine Konsequenz daraus ist zum Beispiel, dass – je subjektiver, intimer das Mitgeteilte wird – unsere Sprache von ihrer grammatischen Ideallinie abweicht. Sobald die Erzählinstanz innerhalb einer Person lokalisiert werden kann (also „ich“ gesagt wird), zerbröckelt das Dudendeutsch. Je „objektiver“ das Mitgeteilte wird (also ein „Er“ reportiert), desto mehr konsolidiert es sich zu nüchterner, beschreibender Sprache.
Das hört sich natürlich einfacher an, wie es am Ende sein wird. Und – I know, I know – es dürfte all diejenigen düpieren, die auf „Einheitlichkeit des Stils“ bestehen, d.h., um es zu pointieren, die Literaturentwicklung der letzten na sagen wir 100 Jahre nicht zur Kenntnis nehmen und immer noch von einer „Schreibe“ murmeln, einer „unverwechselbaren“ gar. – Wogegen ich nichts habe, nein. Da gibt es ganz wunderschöne. Aber ich habe etwas gegen Ausschließlichkeit aus Denkfaulheit.
Sollte unser sprachlicher Plan, der hier nur kurz skizziert werden konnte, aufgehen, dann werden Erzählperspektiven und Sprache zu einem soliden Spannungsbogen verbunden sein, dessen Feinbearbeitung via Personenzeichnung und Handlung geschehen muss. In der nächsten Folge des Summer Camps werden wir also die handelnden Personen vorstellen. Das Thema Sprache und Stil wird uns aber noch beschäftigen.
Lieber dpr,
zunächst eine Frage: Wie ist es nun, wenn eine zweite, handelnde Person dazu kommt? In deinem „Ich-kaufe-mir-eine-Wurst/Er-kauft-sich-eine-Wurst“-Beispiel lächelt das Fräulein. Was aber, wenn dieses Fräulein eine eigene Innenwelt hat? Erzählungen aus zwei Ich-Perspektiven, wie es etwa schon der gute Wilkie Collins vorgemacht hat? Das Beispiel zeigt, dass es fast unmöglich erscheint, zwei Ich-Erzähler gleichzeitig in eine Geschichte einzubinden – höchstens kurz hintereinander.
„Der Typ kam lächelnd an den Kiosktresen. Also lächelte ich zurück, obwohl mir an diesem beschissenen Morgen eigentlich nicht zum Lächeln zumute war. „Ne Rote“ bestellte der Typ kurz und knapp und ich machte mich ans Werk…“
Unterschiedliche Perspektiven verlangen also immer zeitversetztes Ezählen, oder? Anderseits bietet dies auch eine wunderbaren Anknüpfungspunkt, um die Perspektive während einer Erzählung zu wechseln. Gamboa hat das gerade in den „Blendern“ gemacht, in dem er eine Szene erst durch einen Ich-Erzähler erzählen lässt. Schnitt. Ein Er-Erzähler greift die letzten Absätze auf und erzählt, mit fast den gleichen Worten, nochmal die Begebenheit, die dann mit Blick auf die zweite, handelnde Person fortgesetzt wird. Fand ich ganz geschickt gelöst…
Was mir allerdings aus Deinen Ausführungen nicht so wirklich klar wird, warum beim Ich-Erzähler das „Dudendeutsch“ zerbröckelt, während es zwangsläufig bei einem Er-Erzähler beschreibender wird. Ich denke, der Er-Erzähler kann durchaus verschiedene Ebenen einnehmen (so meine ich es auch mal gelernt zu haben): Der wirklich allwissende Erzähler, der sich sowohl in der Innenwelt seiner Figuren auskennt, wie auch in der Beschreibung der Außenwelt. Der auch Urteile über seine Figuren fällt. Oder der allwissende Erzähler, der n u r noch durch die Innenwelt seiner Figuren beschreibt. Dagegen der einfache Erzähler, die Kamera, die ganz nüchtern einfach wiedergibt, was sie sieht, ohne Kommentar, so weit wie möglich objektiv. Christopher Isherwood sah‘ sich zum Beispiel gerne als „Kamera“.
Nur mal so am Morgen nachgegrübelt…
Liebe Grüße
Ludger
Guten Morgen, Ludger,
Zitat: „Das Beispiel zeigt, dass es fast unmöglich erscheint, zwei Ich-Erzähler gleichzeitig in eine Geschichte einzubinden – höchstens kurz hintereinander.“
Stimmt. Da wir von links nach rechts und oben nach unten lesen, ist Synchronerzählen eigentlich nicht vorgesehen. Eine Lösung wäre „mehrspaltiges Schreiben“… den Namen Arno Schmidt erwähne ich nur mal kurz, von wegen „Mehrspaltigkeit“, aber da ging es, wenn man es genau nimmt, nicht um synchrones ERZÄHLEN. Mit was ich im Moment praktisch experimentiere, ist so eine Art „Überblendungstechnik“, die ich in einer späteren Folge des SC vorstellen möchte. Also, ganz grob: Ich Nr. 1 räsonniert, der Monolog schlittert allmählich zu Ich Nr. 2.
Perspektivwechsel? Aber immer! „Dein“ Gamboa macht mir so langsam, auch nach dem Lesen deiner Rezension, Appetit…
Das mit dem „brökelnden Dudendeutsch“ bezieht sich jetzt konkret auf das Setting des Beispielkrimis, der entwickelt wird, ist also nicht zu verallgemeinern (was ich, seh’s gerade, nicht so deutlich gemacht hab; sorry?). Hast natürlich Recht mit dem ER, das in den verschiedensten Ausprägungen da sein kann. Wolf Haas ist das obligatorische Beispiel. Oder Friedrich Ani, der seinen ER-Zähler reichlich tief (und für meinen Geschmack manchmal zu tief) in seine Figuren schauen lässt. Wie gesagt: Ist ein spannendes Thema und wurde in dieser Folge nur angerissen. Bleib dran!
bye
dpr
Noch mal hallo, Ludger,
hier die Bespielpassage aus der 5. Lektion um ein wenig „Überblendung“ der Ichs erweitert (quick & dirty):
„Ich verließ das Haus durch den Hinterausgang. Es regnete. Ich klappte den Kragen meines Mantels hoch, was nichts weiter als ein Reflex war, eine hilflose Geste, denn es regnete stark. Die Straße war menschenleer, wenn man davon ausgeht, dass Kinder keine Menschen sind, sondern schreiende Monster, und ich ging davon aus, denn ich war wütend auf die ganze Welt. Am Kiosk lachte mir das Fräulein entgegen, und ich lachte zurück. Hatte nichts zu bedeuten. Ich sagte: Ne Rote, und sie machte sich ans Werk, fettige Zange in fünf rosig-zarten Fingern, und… weiß nicht… vielleicht weil ich so down war, dass mich der kleinste Wink eines besseren Schicksals hochziehen konnte… oder ich seit drei Monaten keine Frau… jedenfalls: stellte mir vor, wie diese Finger über meine Haut…und da wird man gern zur Gans…aber wenn ich mir vorstelle…ich meine, der Typ sieht okay aus…vielleicht nicht nach Geld, aber nach BAT, was heutzutage…mit dem im Bett, so nebeneinander, und ich streichele ihn und er streichelt gnadenlos zurück…gnadenlos zurückstreicheln, dachte ich, und verschwand in diesem Bild. Solange, bis sie die Wurst zwischen die Brötchenhälften transportiert, dort festgedrückt und mir gereicht hatte. Lachte noch einmal, aber ich lachte jetzt nicht mehr zurück.“
dpr
Ja, interessanter Versuch, die Perspektive kurzfristig zu wechseln, weiß nur nicht, ob mich das nicht doch verwirren würde, wenn ich diesen Abschnitt im Gesamtzusammenhang eines Romans lesen würde und nicht innerhalb des Summer Camps.
Es bleibt aber spannend.
Was Gamboa angeht: Leichte Sommerlektüre. Lustig ist vor allem die Figur des Peruaners Nelson Chouchén Otálora. Dessen literarische Tagträume sind wunderbar schräg und erinnerten mich an längst verflossene Tage, als ich zu Studentenzeiten fleißig die Lateinamerikaner gelesen hab…
Hallo Ludger,
du hast das Problem erkannt: Für Leser kommt ein solcher Perspektivwechsel unvermittelt. In einem Film würde man dann die Kamera auf das entsprechende ICH fixieren und alles wäre klar. In einem längeren Text / Roman müsste es genau vorbereitet werden, quasi gleitender sein und über eine längere Passage gehen.
Gamboa werde ich mir zulegen. Bin gespannt.
bye
dpr