Krimikultur – der Literaturbegriff

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Wenn ich Literatur malen müsste, wäre sie ein wirres und irres System kommunizierender Röhren, und irgendwo in diesem eifrig blubbernden, emsig gebenden, nehmenden Chaos läge der Krimi. Leider muss ich Literatur nicht malen, sondern mit dem vorliebnehmen, was man mir als Augenschmaus anbietet: ein wohlgeordnetes Bücherregal.

Eine funktionierende Krimikultur wäre von dem Irrglauben abgekommen, Literatur richte sich nach den Bedürfnissen von Lehrplänen. Sie wüsste unter anderem, dass der Krimi nicht 1841 mit Edgar Allan Poe beginnt. Sie wüsste, dass in jedem modernen Krimi ein Stückchen Moralisieren steckt, ein Stückchen Romantik, ein Stückchen Schauerroman, ein Stückchen Schund, ein Stückchen Aufklärung, ein Stückchen Realismus …. und ein Stückchen Poe, unbestritten. So wie es halt ist bei kommunizierenden Röhren.

So etwas wie „Romantik“ etwa gibt es in der Literatur nicht. In der Literaturgeschichte, ja, und dagegen sei auch nichts gesagt. Aber ein Ludwig Tieck steht einem Wilhelm Raabe wahrscheinlich näher als einem Novalis; es ist eine Frage der Blickrichtung, der Fokussierung. Beim Krimi ebenfalls. Wenn ich die Kriminalromane Friedrich Dürrenmatts einordnen müsste, täte ich es ganz gewiss nicht neben Heinrich Böll, Max Frisch oder Jean Paul Sartre. Ich würde sie irgendwo zwischen Schiller, Kleist, Glauser und Jerry Cotton setzen, letzteres nicht als Provokation, sondern eingedenk der Tatsache, dass das, was wir Spannung nennen, sich letztlich aus der Trivialisierung des Kriminalromanes herleitet, die ihrerseits sehr stark von Elementen der „Hochliteratur“ geprägt ist, die selbst mehr von der Trivialliteratur profitiert hat, als manchem feinsinnigen Connaisseur lieb sein kann.

Nein, es ist schwierig, weil alles eben – siehe oben – ein reichlich chaotisches System ist, mit undurchschaubaren Kommunikationswegen, und so bleibt letztlich jede Annäherung eine zwar verständliche, doch im Grunde unstatthafte Methode, etwas nachzuvollziehen, das man nicht nachvollziehen kann. Aber akzeptieren.

Wenn ich akzeptiere, dass sich Literatur ständig verändert, indem sie alle möglichen Einflüsse in sich aufnimmt und sich auch nicht zu schade ist, eigene Werte abzugeben, dann wird mein Blick auf die sogenannte minore Literatur, das Triviale also, ein anderer. Ein Heftchenkrimi, der seine Ziele perfekt umsetzt, ist mir lieber als ein im Durchschnitt des common sense dahinschwimmender „literarischer Krimi“. Ich muss ihn nicht mögen, ich muss ihn nicht einmal für „wertvoll“ halten, aber wenn ich ihn ignoriere, passiert genau das, was schon passiert ist: Man reißt notwendige Teile des Röhrensystems aus der Literatur heraus.

Ginge es nach der allgemeinen Literaturbetrachtung, hätten wir etwa niemals eine Tradition des Kriminalromans gehabt. Wir haben sie aber, und sie ist auf- und anregender als man vielleicht im ersten Moment denken mag. Sie hat AUCH etwas mit den Klassikern zu tun, die man immer wieder nennt, mit Schiller und E.T.A. Hoffmann und Kleist und Fontane. Aber eben nicht nur. Im übrigen wäre der Kriminalschriftsteller Schiller ohne den Schauerroman nicht denkbar, und der Unterhaltungskrimi des späten 19. Jahrhunderts wiederum nicht ohne Schiller, aber auch nicht ohne Poe oder Eugène Sue oder Charles Dickens oder …

… man nehme Edgar Allan Poe. Der niemals ein Autor von Kriminalerzählungen war, sondern von Erzählungen. Poe war, als er „Rue Morgue“ schrieb, nicht davon beseelt, in irgendwelchen Guinessbüchern literarischer Rekorde und Ersttaten aufzutauchen. Er war beeinflusst von der deutschen Romantik, dem Schauerroman und gleichzeitig ein Pionier der psychologischen, analysierenden Literatur, deren Herkommen wiederum aus der Aufklärung ebenso wie aus der Romantik hergeleitet werden kann und die, nimmt man es genau, bei James Joyce nicht endet.

Wenn also heute Jerry Cotton aus einem Whiskyglas mit Lippenstiftspuren, einer angebrochenen Packung Chesterfield und einem langen blonden Haar am Kragen des Toten den Schluss zieht, Täterin könne nur eine rauchende Frau sein, dann weist das unter anderem zurück in die Romantik und die wiederum zeigt mit dem Finger auf Joyce, der seinerseits übrigens das Triviale schätzte und ausschlachtete und also mit dem Finger zurückweist.

Und noch etwas: Wo Ideen ineinandergreifen, entstehen Bastarde. Texte, die Krimis sind und doch nicht, Texte, die keine Krimis sind und doch welche. Es kommuniziert halt. Es gibt und nimmt. Das nicht zu achten, bedeutet: keine Kultur. Nicht einmal Krimikultur.

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