Schule der Rezensenten – Opitzstunde 2

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Zweiter Leseversuch: Die ersten 55 Seiten noch mal gelesen, das Urteil bleibt gleich: Ich sehe wohl die Absicht, zweifele aber an ihrer Umsetzung. Nun, sei’s drum. Weiterlesen. Heute bis Seite 110.
Inhaltlich tut sich wenig, alles dreht sich irgendwie im Kreis. Der Mord an der Witwe Kuhnhardt wird weiterhin untersucht, die Aussage der Hauptzeugin Henriette Schmidt, sie sei zur Tatzeit dem Magister Klug im Treppenhaus begegnet, darf inzwischen bezweifelt werden, neue Zeugen treten auf, auch nicht gerade glaubwürdig.

Jetzt auch beginnt Opitz mit der Niederschrift der Genese seines Buches. Wie ist er überhaupt an sein Thema gekommen? Überraschung:

„K.L.
Krl. Lgrfld.
Karl Lagerfeld. – O!
Alles begann mit Karl Lagerfeld!
Alles Unheil begann mit Karl Lagerfeld!
Alles Unheil begann einmal mehr mit Karl Lagerfeld!
Alles Unheil begann einmal mehr mit diesem Lagerfeld wieder, allerweltsberühmtem Sneidermeister, Bibliophilen, Fotografierer und Faxenmacher im Fernsehn! Mit keinem Geringeren! Und das kam so:“

Ja, so steht es wirklich im Buch, anstatt dass nüchtern geschrieben stände: Also der Karl Lagerfeld hat Fotos im Goethehaus zu Weimar gemacht und der Verleger hat Opitz gebeten, einen Text dazu zu machen und das hat er nicht geschafft und hat trotzdem ein bissel im Goetheumfeld gelesen und ist dabei auf den Tinius gestoßen und so kam das.

Tut mir leid. Ich vermag auch den Witz in solcher Feldlagerei der Wörter nicht zu sehen. Schön; es geht um diesen Tinius und aus irgendeinem Grund meint Opitz, er müsse uns das in einem ständigen Hinundher von Damals- und Jetztzeit präsentieren. Da gibt es einen „Uiberfall“ (64), den es schon im 19. Jahrhundert sprachlich längst nicht mehr gegeben hat, da wird „Gifft getruncken“ (81) und „vil“(ebd.) durchgemacht. Da heißt ein Kapitel „Flozzes Intermetto“, nee, tschuldigung, schreibt der Autor, „Flottes Intermezzo“ (auch 81), steht am immer noch extrabreiten äußeren Rand kryptisch „-T.!- wdlch“(85), whatever it means, und, nein, nein, nein, da ist weder lustig noch besonders tiefsinnig und eins schon gar nicht: sprachmächtig, und da mag das Internet-Feuilleton, das ich soeben konsultiert habe (man schreckt ja im Dienste der Leser vor nichts zurück), noch so sehr von „Kunst, Kunst, Kunst“ raunen, nee, isses nicht, Ehrenwort, garantiert.

Dann beschreibt Opitz, wie er eine Nachkommin des Pfarrers Tinius ausfindig macht, deren Ehemann ein wenig geforscht und veraufsatzt hat zum berüchtigten Vorfahren. Er beklagt sich über seine Vorgänger, die den „Criminalfall“ reichlich verzerrt und voreingenommen berichteten, und da mag er wohl Recht haben.

Fazit nach nicht ganz einem Drittel: Ich bin mal gespannt, wie er die Kurve kriegt. Noch ist ja der eigentliche Held des Ganzen nicht im Vollvisier des Autors und der Justiz, vielleicht trägt dann der krumme Sprach- und Inhaltsbaum Früchte. Momentan bin ich allenfalls bereit, ihm zu attestieren, er sei auf hohem Niveau bei einem riskanten Drahtseilakt abgestürzt, was aller Ehren wert ist. Mehr aber nicht. Noch nicht. Ob ich meine Meinung ändere? Mag sein, dass meine Erwartung, etwas über den „Büchermörder“ zu erfahren, nicht der Intention des Autors entspricht, mir die zweifelhafte „Objektivität des Faktischen“ vor Augen zu führen. Insofern wäre das Ganze ein Missverständnis, da mir genau dieses Thema schon zu geläufig ist, um ihm noch einmal ein paar Hundert Seiten lang beizuwohnen. Wohlan. Wir werden sehen. Nächste Woche mehr dazu.

6 Gedanken zu „Schule der Rezensenten – Opitzstunde 2“

  1. die Wette, daß Sie nix über den Mörder erfahren werden, hätte ich schon gehalten, eh‘ Sie und ich das Buch aufgeschlagen haben. (Einem nackten Mann in die Tasche fassen …)

  2. Na, okay. Aber was schreibt Opitz hier eigentlich? Rekonstruiert er die historischen Ereignisse oder schreibt er einen Roman, zu dem ja auch ein gerüttelt Maß „Fiction“ gehören sollte? Ich hätte schon gedacht, dass Opitz seine Romanphantasien auf die Person des Opitz (des „Mörders“) richtet und nicht darauf, die facta sprachlich durch die Jahrhunderte zu schütteln. Als Romanautor sollte Opitz eben kein nackter Mann sein. Aber ich les mal weiter.

    bye
    dpr

  3. Opitz ist nicht nackt. Im Gegenteil: sein Matin ist noch älter als der des Tinius (das ist für mich dann doch langweilig).

    Willibald Alexis klagt in seiner Tinius-Geschichte:

    „Ein direkter Beweis ist weder durch Zeugenaussagen noch durch Eingeständni¨ vorhanden; vielmehr mu¨te aus dem Connex vielfacher Indicien auf künstliche Weise der Beweis der Thäterschaft so weit hergestellt werden, damit eine au¨erordentliche Strafe sich rechtfertigen lie¨“ (S. 159 f.). Gericht und Publikum seien ‚moralisch‘ von der Schuld überzeugt. Die zentrale Frage für den Neuen Pitaval (und womöglich auch für Hagen): Das Urteil sei den ‚psychologischen Schlüssel‘ schuldig geblieben: „So sind wir hinsichtlich der Motive, mit Ausnahme weniger zuverlässiger Hülfsquellen, auf das verwiesen, was zur Zeit der That und nachher jedes Kind wu¨te, was aber jetzt nur dunkel im Gerüchte lebt, und bleiben über die wichtige Frage im Dunkel: wie ein Mann von solcher Verstandeskraft, seiner bildung, wie ein Geistlicher seiner Bücherliebe bis zu der Raserei der Leidenschaft steigern konnte, nicht um einen Andern, der etwa ein ihm kostbares Kleinod besa¨, in der Wuth zu erschlagen, damit er das theure Besitzthum sich aneigne – denn die Manie hat ihre eigenen Gesetze –, sondern, wie Tinius ein kaltblütiger Raubmörder werden konnte, der mit Vorbedacht und entsetzlicher Consequenz Mord und Raub als Geschäft betrieb. Welche Stufen und Stadien liegen da zwischen einem makellosen Jüngling, der sich überall des besten Ruhmes erfreute und dem Manne im Gefängni¨, der hinter den Gitterfenstern hervor mit eiserner Stirn falsche Zeugenaussagen bestellt und bezahlt, in dessen zehnjähriger Untersuchungshaft aber nie eine Spur von Reue oder Gewissensbissen aufleuchtete. So wenig die Methode unsererseits gebilligt wird, welche, in der Sucht, Manien zu finden, aus der Subjecitivität des Thäters ruchlose Thaten allein herleiten und entschuldigen will, so wenig mögen wir die umgekehrte loben, wo der erkennende Richter nur am Thatbestande haftet, ohne einen Blick auf die Seelenzustände des Täthers zurückzuwerfen, aus denen sie hervorging, oder unter denen sie erfolgte“ (S. 160f.)

    Als hätten sich unsere Erwartungen seitdem nicht geändert …

    mfg

  4. Mir ist schon klar, dass Opitz nicht Schuld oder Unschuld des Tinius beweisen kann und wird. Aber genau den von Alexis eingeforderten „Blick auf die Seelenzustände“ erwarte ich mir denn doch (Alexis, der bei Opitz ja ziemlich glattgebügelt wird, nebenbei). Im Moment läuft mir alles zu sehr auf die „Rekonstruktion der Konstruktion der Schuld“ hinaus. Was auch noch in Ordnung wäre, müsste ich nicht zudem noch die Genese des Buches zur Kenntnis nehmen, durchwoben mit allerlei Stilmarotten des Autors.
    Schauen wir doch mal, wie Adolph Streckfuß vorgegangen ist. Bei ihm besteht kein Zweifel an der Schuld des Pfarrers. Am Ende jedoch nennt dieser bei der Gerichtsverhandlung eine Reihe von Erklärungen, die manches, was gegen ihn spricht, erschüttern können. Der Leser, der in diesem Pfarrer – Tridens heißt er übrigens – gar nichts anderes hat sehen können als den Bösewicht, wird zumindest irritiert. Ist Tridens möglicherweise doch Opfer eines Komplotts geworden? Find ich sehr gut gelöst. Wäre doch ein Kandidat für die „Criminalbibliothek des 19. Jahrhunderts“, oder nicht?

    bye
    dpr

  5. erst mal muß ich mich entschuldigen: Sie sind ein Opfer meiner augenblicklichen Tätigkeit, nämlich aus zahllosen (oder ungezählten) Notizen einen Text zusammenzubasteln, der zeigen soll, daß daraus eines Tages ein richtiger Text werden wird über verschiedene Aspekte der literarischen Repräsentation von Kriminalität und Strafverfolgung (und Sie wissen, daß Sado und Maso zusammengehören).

    Außerdem wäre es ungehörig, wollte ich Ihre Leseinteressen krtisieren — aber das mit den Seelenzuständen der Mörder interessiert mich seit ich eine Arbeit über den „Neuen Pitaval“ geschrieben habe: Ich kann dieses Interesse nicht nachvollziehen und hatte schon die Befürchtung, alle Anlagen zum Psychopathen zu haben (aber das wäre ein Thema für den vielberedten Herrn Janczyk und gehört also an einen anderen Ort).

    Sie dürfen mir Geduld und Glück bei der Arbeit wünschen

    J. L.

  6. Nee, Seelenzustände der Mörder interessieren mich auch nicht besonders. Aber der des Herrn Tinius schon, weil der einzige Gegenstand ist, für den ein Herr Opitz so ein schweres Sprachgeschütz rausholen sollte. Meinetwegen auch Recht und Gerechtigkeit gestern und heute am Beispiel von Tinius und wem auch immer. Nur: SO? Nö.
    Glück wünsche ich Ihnen, Geduld desgleichen. Ha’m Sie zufällig Bio-/Bibliografisches zu Herrn Streckfuß greifbar? Find nix im Netz. Wenn nicht, auch nicht schlimm.

    bye
    dpr

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