Im Zentrum von „In the Midnight Hour“ der Krimi-Autorin (und Soziologin) Michelle Spring steht eine Familie, der vor 12 Jahren ein Kind abhanden gekommen ist und die nicht weiß, ob dieses Kind tot ist oder irgendwo lebt. Sensibel und gekonnt verwendet die Autorin dieses Thema als Hintergrund für ihren 2001 erschienenen Roman.
Seit er die Überreste einer vor über 100 Jahren gescheiterten arktischen Expedition gefunden hat, ist Jack Cable in England ein berühmter und für seinen Mut bekannter Mann. Sein Sohn Timmy ist vor zwölf Jahren während eines Strandausflugs mit seinem Vater verschwunden. Ein Ereignis welches – natürlich – die Familie geprägt hat. Die (ältere) Tochter leidet darunter, dass sie kein ausreichender Ersatz ist, die Mutter, in einer Art Dauerdepression, meint in regelmäßigen Abständen den Sohn auf der Strasse zu sehen, und der Vater (und darin ähnelt er Friedrich Anis Tabor Süden) leidet darunter, dass er, der berühmte Entdecker, seinen eigenen Sohn nicht findet kann.
Und plötzlich sitzt da auf der Straße dieser Jugendliche, und die Mutter ist sich sicher. Das ist er, ihr verlorener Sohn. Die Familie bittet die Privatdetektivin Laura Principal, den Hintergrund des Jungen unauffällig zu beleuchten. Und so versucht Laura dann nicht nur die Person des rätselhaften Jungendlichen zu verstehen, sondern auch zu ergründen, welches Geheimnis mit dem Verschwinden Timmys verknüpft ist. Ein Buch scheinbar im klassischen Landhausstil, tatsächlich auf dem englischen Lande spielend, wo Laura immer wieder den gleichen Personen begegnet, um diesen Stück für Stück das Geschehen von damals zu entlocken.
Darüber hinaus aber ist das Buch eine sensible Annäherung an das Thema, wie eine Familie, Eltern, Geschwister damit umgehen, wenn ein Kind verschwindet und keiner weiß, was mit ihm passiert ist. Wenn Sehnsüchte und Ängste, Hoffen und der Wunsch nach Gewissheit zueinander verquer stehen.
Dieses Buch ist eine ungewöhnliche und gelungene Balance zwischen „Whodunit“ und Psychothriller. In diese so scheinbar schwerelose Welt des wohlhabenden britischen Mittelstandes setzt die Autorin immer wieder wohldosierte psychologische Momente, schafft damit eine unerhörte Intensität und steigert die Spannung bis zum Schluss. Dabei arbeitet sie mit den Elementen des klassischen britischen Krimis bis zum „show down“ mit Detektiven und Polizei vor der versammelten Familie.
Das Buch hat seine besondere Qualität aber nicht nur dadurch, dass die exzellente Autorin so ungewöhnlich gut konstruieren kann, sondern auch dadurch, dass sie erzählen kann wie nur wenige. Man merkt der Autorin auf jeder Seite dieses Buches die Lust am Erzählen, die Gier nach Wörtern an. Das Buch hat nicht die Kargheit mancher Bücher amerikanischer Provenienz, sondern, ohne dass es geschwätzig wirkt, ist es immer wieder der Rausch der Wörter, welcher auffällt. Ein rundum gelungenes Buch britischer Stilistik, das uns die gebürtige Kanadierin da serviert.
Dass diesem 2001 zuerst erschienenen Roman bisher kein weiterer Krimi gefolgt ist, macht Sorge. Die Professorin für Soziologie ist offensichtlich anderweitig hinreichend ausgelastet. Schade, extrem Schade. Auch die Auszeichnung mit dem kanadischen Krimipreis garantiert heutzutage wohl nicht mehr die notwendige Aufmerksamkeit der Leser. In „In the Midnight hour“ demonstriert Michelle Springs, dass sie eine Vielzahl unterschiedlicher Fähigkeiten als Autorin von Krimis auf sich vereinigt. Um so mehr freut es mich, dass mittlerweile für 2006 ein „stand alone“ der Autorin angekündigt ist.
Michelle Spring: In the midnight hour.
Orion 2001. 320 Seiten,
z.Zt. nur gebraucht lieferbar
(deutsch als "Vermisst". Ullstein 2002, z.Zt. nur gebraucht lieferbar)
Gekauft!