Das Buch „Line of Vision“ des Anwalts und Autors David Ellis feiert die amerikanischen Justiz nicht gerade ab. Dezent wird diese Justiz ins Lächerliche gezogen. Die Anwälte beider Seiten werden als Zyniker des Erfolgs darstellt, die Fakten hauptsächlich danach bewertet, ob sie der eigenen Seite helfen, nicht ob sie der Wahrheit dienlich sind.
In Amerika wird David Ellis „Line of Vision“ gerne als “courtroom drama” bezeichnet. Dieses ist es aber nur zum Teil. Das Buch geht viel direkter, viel emotionaler zu Werke. Die Story dreht sich um Marty Kalish. Unmittelbar auf seiner Schulter sitzend meinen wir alles mitzubekommen: Gefühle, Gedanken, Reaktionen ungefiltert. Marty ist ein recht erfolgreicher Investment Banker. Sein emotionales Leben ist jedoch etwas kurz geraten. Eine Schwester, wenige Studienfreunde und eine verheiratete Geliebte. Es gibt wenige Gründe für ihn, abends von der Arbeit heimzukehren. Und wenn, dann um zum Garten der Geliebten zu streben, um ihr zuzusehen, wie sie sich am Schlafzimmerfenster auszieht.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil beschreibt die Zeit vor der Gerichtsverhandlung. Marty sitzt im Garten der Geliebten und beobachtet, wie diese von ihrem Ehemann angegangen wird. Später sehen wir ihn unter der Dusche sich vom Blut des Ehemanns reinigen. Unheimlich dicht und emotional packend verfolgen wir die Wochen nach dem Mord an dem Ehemann. Es ist eine Zeit wie ein Albtraum, immer wieder ist die Aufmerksamkeit seiner Gesprächspartner auf Umstände gerichtet, von denen Marty eigentlich möchte, dass sie nicht wahrgenommen werden. Bis er dem Druck nicht mehr standhält und in einem Routineverhör bei der Polizei ein Geständnis ablegt. Gespickt mit Rückblenden und Einschüben seiner Gedanken wird hier eine ungeheure Nähe geschaffen. David Ellis macht das extrem gut, aber, so gebe ich zu, es hat etwas gedauert, bis mich auch die Story Martys in ihrem Bahn gezogen hatte. Anfänglich kam sie doch etwas klinisch kühl herüber.
Im zweiten Teil bekommt der Leser dann das klassisches Gerichtsdrama, mit all dem was dazu gehört: Pfiffige Wortgefechte, witzige Dialoge, aufkeimende Hoffnung und bittere Rückschläge. Das kennt man, das hat man schon gelesen, aber selten so dicht am Angeklagten. Marty, der Angeklagte, ist unser Lotse, der uns durch die Untiefen der anwaltlichen Tricks führt und uns mit seinen Reaktionen auf die gute Einsätze seines Anwalt und auf die Attacken der Gegenseite sehr dicht ans Geschehen fesselt. Zunehmend gewinnt das Buch an Spannung und unterhält den Leser ungemein gut.
Mit 440 Seiten ist es nicht gerade ein kurzes Buch. Ein Buch für geduldige Leser, sein Aufbau wirkt logisch und offenbart großes gestalterisches Vermögen. Die Art und Weise, wie Davis Ellis sein Rätsel und dessen Auflösung in einem emotional dichten Krimi gestaltet, rundet den guten Eindruck ab. Für einen Erstling macht es einen sehr reifen Eindruck und weckt Hoffnung auf mehr. Der Aufbauverlag hat den Folgeband 2004 in Deutschland herausgebracht. David Ellis Bücher setzen ein Verständnis für das amerikanischen Rechtssystem voraus, es entspricht eben nicht unserem Rechtsempfinden, dass Staatsanwalte Indizien unterdrücken, weil diese ihnen nicht passen. Dafür bieten die Bücher aber auch einen klugen Lesespaß.
David Ellis: Line of Vision.
Berkley Publishing Group2002. 440 Seiten, 7,49 €
(bisher keine deutsche Übersetzung)