Robert Brack: Kalte Abreise

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[Na, das fängt ja toll an: Der Zug fast leer (Schulferien), aber ein Mief, als hätte gerade eine Horde Restalkoholisierter das Abteil geentert. Und dann das:]

„Hamburg: In der Präsidentensuite des Hotels Atlantic an der Außenalster wurde heute Nachmittag während einer Hotelbesichtigung die Leiche eines unbekanntes Mannes gefunden.“

So beginnt Robert Bracks „Kalte Abreise“, wir sind also mittendrin und ich bin gleich zweimal mittendrin: Zugabteil – Kriminalerzählung.

[Und das ist er natürlich: der Reiz des Ganzen. Der Eskapismus. Der Kontrast. Präsidentensuite des Hotels Atlantic an der Außenalster. Nicht: Im Nahverkehrszug von Pirmasens nach Saarbrücken wurde heute Morgen die Leiche eines unbekannten Mannes gefunden. Er hatte ein blaues Taschenbuch in der erkalteten Hand.]

In der Präsidentensuite wohnt der Präsident der „Kaukasischen Demokratischen Republik“, aber der ist verschwunden, die Leiche ist jemand anderes. Dreizehn Damen vom Hausfrauenverband Bergedorf haben ihn gefunden, „während einer Hotelbesichtigung“, wie gesagt,

[und jetzt stutze ich doch: Darf man im Hotel Atlantic einfach so bewohnte Zimmer, gar noch von Präsidenten fiktiver kaukasischer Republiken besichtigen? Seltsam. Ich meine: Ich hätte nichts dagegen, wenn sich die junge Dame, die jetzt einsteigt, neben mich setzen würde. Der Platz ist ja noch frei. Wir könnten uns dann erst mal gegenseitig besichtigen. Aber keine Chance: Es sind viel zu viele Plätze frei heute morgen.]

Auftritt Kommissar Leipziger, Seite 10, Typ ungehobelter Klotz, nebst etwas einfältig wirkendem Assistenten. Aha. Und jetzt geht’s los: Die ganzen Verwicklungen: Ein Hotelmanager, vor allem aber eine Hoteldetektivin, die sich angesichts der Leiche merkwürdig benimmt. Keine Frage: Die kennt den! Der hat keine Schuhe an! Wo sind die nur?

[Ganz klar: Das ist ein 64-Seiter (genauer: 62-Seiter), da geht’s zur Sache. Keine „Milieustudien“, die den Leser gemach in eine andere Welt ziehen. Wär auch schwer im Zug, trotz erfreulicher Rotzlöffellosigkeit heute. Ein Frau von Seidevitz fährt Brack auf, eine ältere Dame, von ihren Freundinnen „Miss Marple“ genannt, die ihren Hund mit teurem Fleisch füttert. Aber die kann – wir sind schon auf Seite 32! – nur eine Nebenrolle spielen. Entkräftet aber den Verdacht, der verschwundene Präsident habe mit Rauschgift gehandelt. Nee, gehandelt wohl, aber mit was ganz anderem…]

Jo, Seite 32, so schnell geht das. Brack schreibt das ganz witzig, fast parodistisch. Wir lernen einen amerikanischen Millionär kennen, der einen Chauffeur hat, der selbst einen Chauffeur hat. Liest sich, ich bin gleich am Ziel, wirklich nett, wenn auch nicht mit jener Atemlosigkeit, die das Buch zum Pageturner machen würde.

[Ja. Zwischenfazit, während ich noch zehn Minuten bis zum Büro laufen muss: Von einem so kurzen Krimi kann ich keinen „Spannungsbogen“ im herkömmlichen Sinn erwarten, wie etwa bei – was lese ich gerade noch – Reginald Hill. Dabei packt Brack im Grunde all das in die erste Hälfte seines Textes, was Hill auch reinpackt: Das Verbrechen natürlich, einen überschaubaren Kreis von potentiell Verdächtigen, Theorien, Hinweisen, falschen Fährten. Aber bei Hill erlese ich mir das. Bei Brack bekomme ich es genannt. Er kann aber gar nicht anders. Nein, er entfremdet mich nicht von meiner realen Außenwelt, so wie es Hill schafft. Wenn ich den lese, höre ich nicht einmal das Telefon, wenn es klingelt. Bei Brack schaue ich ab und zu aus dem Fenster, wenn der Zug hält, wenn ein Reisender an mir vorbeigeht, wenn der Typ da drüben seinen Heavy Metal jetzt aber volle Lotte durch die Knöpfchen in die Ohren jagt. Brack muss eine andere Strategie verfolgen: Die Leute möglichst elegant unterhalten, ein bisschen witzeln und hinsichtlich der Aufklärung des Mordes bei der Stange halten. Und das macht er bisher gut. Doch, doch.]

[Feierabend. Zug. Proppenvoll. Platz neben einem sehr dicklichen Bartträger, der unbeweglich aus dem Fenster guckt. Gut so. Weiterlesen.]

Noch ein paar Verwicklungen. Bilder hängen nicht mehr dort, wo sie eigentlich hängen sollten. Der Kommissar findet ein paar Schuhe, die ganz offensichtlich dem Toten gehören. Hotelgäste berichten von einem „Phantom“, einem Schwarzgekleideten, der nächtens durch die Flure schleicht. Die Hoteldetektivin ist der Schlüssel, das ahnt man. Langsam nähert sich der Krimi seinem Höhepunkt. Die Hoteldetektivin packt aus. Sie kennt den Toten, das war ja klar. Tja, und der Schwarzgekleidete ist eigentlich…aber sofort eine neue Verwicklung, die Auflösung – und plötzlich ist der Fall gelöst.

[Hm. Spannung? Nö. Ich war nie in der Gefahr, an der falschen Station auszusteigen. Spannung in einer Kriminalerzählung? Das scheitert meist schon an der schieren quantitativen Beschränkung. Was nicht unbedingt ein Nachteil ist. Stellen wir uns vor, „Kalte Abreise“ wäre als richtiger, sagen wir 300-seitiger Krimi konzipiert, bei unverändertem Grundgerüst. Herr Brack, schlecht beraten, hätte das Ding aufblasen können. Kommissar Leipziger hat natürlich private Probleme, seine noch minderjährige Tochter macht ihm Sorgen und er findet sie im Hotel, wo sie der Prostitution nachgeht, um ihre Drogensucht zu finanzieren, ihr Dealer wohnt selbstredend auch im Hotel, was einen schönen Nebenstrang ergibt, mindestens 120 Seiten. Doch, nicht lachen, so was gibt’s! Dann könnte man auch noch die „Atmosphäre“ einarbeiten. Menschen im Hotel, das ist beliebt, das gibt noch einmal 60 Seiten. Ein zweiter Mord darf nicht fehlen. Die Hoteldetektivin muss dran glauben! Die weiß zuviel! Macht noch mal 30 Seiten, und schon wären wir nahe an den 300. Das Ende natürlich langgezogen wie ein Kaugummi. So hätte es Herr Brack ja auch machen können. Durfte er aber nicht. Gott seis gedankt. So, ich muss jetzt aber wirklich aussteigen.]

Fazit: Robert Bracks „Kalte Abreise“ ist ein gut geschriebener, stellenweise witziger kleiner Krimi. Er verwaltet seine Beschränkungen überlegt ökonomisch und bedient die „Genrebedürfnisse“ des Lesers mit gekonnter Routine. Es ist ein „Großkrimi“ im Schnelldurchlauf, auf „die Lösung“ kann es nicht wirklich ankommen, Brack muss seine Pluspunkte vorher sammeln, indem er den Leser angenehm unterhält. Und das tut er. Hübscher Einsteig in die neue Reihe.

dpr

Robert Brack: Kalte Abreise. 
Edition Nautilus 2006. 62 Seiten, 4,90 €

16 Gedanken zu „Robert Brack: Kalte Abreise“

  1. wo ist denn der freitag!-sex-and-crime-eintrag von herrn k.?
    *sucht

    **lacht
    okayokay. ich finde die wiederkehr der kurzen FORM wun-der-bar.

  2. Ja, liebe Sexsüchtige, das fragen wir uns auch. Was macht dieser K.? Sucht er immer noch „Stellen“? Hat er in seinem Finanzamt zuviel mit Einkommenssteuererklärungen zu tun? – Und die kurze Form – eigentlich ist es ja die halblange oder viertellange – möge tatsächlich wiederkehren! Jedenfalls freut es mich, dass Nautilus noch einen Versuch wagt. Wäre übrigens eine gute Gelegenheit, deinen Winzerkrimi auf 64 Seiten einzudampfen. Dann bespreche ich ihn auch in der „Eisenbahnlektüre“. Positiv!

    bye
    dpr

  3. Kein Problem. Schieb mal rüber das Ding. In zehn Minuten haben wir das. Und ich schreib dir auch noch eine exklusive Sexszene rein (Missionarsstellung bei der Traubenernte).

    bye
    dpr

  4. hassemeinenkrimi.

    du weißt nicht zufällig ne zeitung, wo ich meine kurzkrimis loswerden kann? sie sind wirklich molto divertente – gehen runter wie nix!

    *braucht geld
    **plädiert für die KURZE FORM
    ***KRIMIKRITIKER! UNTERSTÜTZT DIE KURZKRIMIAUTOREN!! DIE AMIS MACHENS AUCH!!!
    ****LEST A-N-O-B-E-L-L-A!!!!

  5. Oh, oh! Vor Stücker 50 Jahren hat ein gewisser Arno Schmidt einen Aufsatz mit dem Titel „Die aussterbende Erzählung“ geschrieben und sich darin bitter über die Zeitungen beklagt, die solche Sachen nicht mehr drucken. Er selbst hat in dieser Zeit vorrangig von Kurzgeschichten für Zeitungen gelebt. Und heute? Ganz schlecht. Mal Saarbrücker Verhältnisse: Hier gibt es DIE Tageszeitung, und dort konnte ich in den Achtziger Jahren noch ab und an ein paar feuilletonistische Schnurren und Rezensionen mit ca. 100 (!) Zeilen unterbringen. Heute heißt das „Feuilleton“ irgendwie „Aktuelles“ oder so, und so ist es auch. Nix mehr traditionell Feuilletonistisches, nix mehr Kurzgeschichten (an Sylvester hatte ich mal eine drin, auf die mir sogar zwei heiratswillige Damen Briefe geschrieben haben! Ging irgendwie um Bleigießen). Also: sorry. Kurzkrimis in Zeitungen? Vielleicht Metzger- oder Bäckerzeitung, irgendwelche bunten Blätter, da gibts das meistens noch. Aber sonst?

    bye
    dpr

  6. Ach ja, liebe Verleger: Wenn ihr irgendwelche Angebot für Anobella habt, erst mal mich kontaktieren. Ich leite dann weiter und kassiere 50 Prozent. Irgendwie muss sich das Ganze hier ja lohnen…

    bye
    dpr
    *Anobella? Weltklasse!

  7. *faltet die hände
    okay, was kann man tun?
    kurzgeschichtenautoren müssen unterstützt werden! sonst können sie sich ja nicht für die GROSSE form rekrutieren!
    abgesehen davon, dass z.B. highsmith in den kurzgeschichten brillierte, z.b. „der mann, der bücher im kopf schrieb“ oder „das netzwerk“ oder „was die katze hereinschleppte“. meistererzählungen nennt sich sowas.
    und ich will gar nicht von raymond carver und den begnadeten kurzgeschichtenautoren amerikas anfangen …
    *fängt damit an
    aber wenn nicht alle krimikritiker gleichzeitig mehr die KURZE form fordern, wird´s nie was!
    und anobellas gehen UNTER!
    ZEITUNGEN! DRUCKT UNS! EIN HUNNI REICHT! UND WIR HABEN WAS ZUM VORWEISEN!

  8. der nächste gute kurzkrimi in der zeitung muss von der kritik mit genau der gleichen spannung erwartet werden wie die kolumne harald martensteins in der zeit! (nur so als beispiel) JEDE WOCHE SAMSTAGS! DANN gibts neue krimikultur!!!
    *entfaltet ein ebengemaltes transparent:
    ZEITUNGEN, KRITIKER, PLATTFORMEN! FÖRDERT DEN KURZKRIMI!!!!!!!!!!!!!!!!!

  9. Hm,hm, hm, mal mein PR-Gehirn in Falten legen…n Hunni reicht…keine Publikationsmöglichkeiten…HA! Die Lösung! Ab sofort gibt es bei wtd SSS: short story sponsoring. Und das funktioniert so: Ich fordere meine Leser hiermit auf, einen Betrag ab 2 € aufwärts für einen Kurzkrimi zu spenden. Erstmal Zusage, noch kein Geld (Email: dpr@hinternet.de). Wenn 100 beisammen sind, gibt es einen Kurzkrimi hier bei Hinternet. MIT EINER ORIGINALZEICHNUNG VON RAPHAEL WÜNSCH! (der weiß das noch nicht; aber der machts). Und einer von mir persönlich gesetzten und ausgedruckten Printversion der Shortstory für jeden Mäzen! (Jo, aber erst ab 10 €; das Porto. Und außerdem verwende ich gutes Papier). Das Geld geht natürlich zu 100% an Autor oder Autorin, das mit der Printversion finanziere ich aus eigener Tasche! Die erste shortstory kommt von Anobella! Und unter allen Unterstützern verlose ich noch einen Krimi! Ha! Das müsste klappen…mal weiter überlegen…hm, hm, hm. Schon mal Interesse bekunden, Leute! Krimikultur!

    bye
    dpr

  10. Keine Publikationsmöglichkeit ist vielleicht etwas übertrieben. Man/Anobella darf nur nicht so hohe Ansprüche haben. Hans-Jürgen Zietz schreibt auf seiner Website → kurzkrimi.de über die Kundschaft für seine Kurzkrimis:

    Hauptabnehmer sind gegenwärtig >Auf einen Blick<, >Tina<, >Neue Post< und >Frau mit Herz<.

  11. lieber walter,

    ja, du hast recht. ich kenne das und habe mich nur nicht dran erinnert, weil ich diese spezielle crime-short-story nicht beherrsche – das sind zweiseiter. aber ich wollte es immer mal LERNEN. die stories in der „funk uhr“ (glaube ich) lese ich manchmal mit meinen schülern, für deren attention span das gerade die richtige länge ist. von ihrer klassenlehrerin aus müssen sie sich durch einen mankell hangeln … *die gute absicht sei dahingestellt …

  12. Zweiseiter? Damit ist heute auch kein Geld mehr zu verdienen! Halbseiter wäre richtiger, oder Viertelseiter (bezogen auf die Zeitschrift, nichts aufs A4-Papier). Die durchschnittliche Länge beträgt mittlerweile 5000 Zeichen, bald werden es wahrscheinlich 4000 sein oder 3000 oder … Rapide schrumpfender attention span ist kein alleiniges Problem von Schülern.

  13. Ist es allerdings nicht, lieber Herr Zietz. Aber schon merkwürdig, dass vor allem die Ziegelsteine gerne in Zügen gelesen werden, also ich würde die schon mal gar nicht jeden Tag mitschleppen wollen. Vielleicht beißt sich das aber auch nicht mit der immer schmaleren attention span. Man wird ja bequem über die länglichen Textstrecken gezogen und braucht gar nicht mehr selbst aufzumerken.

    bye
    dpr

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