Was mussten die armen Grimms Märchen nicht schon alles mitmachen?! Das Schlimmste waren wohl ihre Übersetzungen in „total krasse“ Jugendsprech. Oder die Verfilmungen mit Otto und jüngst den Comedynasen eines Privatsenders… Nun gut, als Bilderbücher gibt´s es sie auch zuhauf. Und das, obwohl Märchen doch traditionelles Erzählgut sind. Also was für die Ohren.
Aber die Märchenwelten mit ihren verwunschenen Wäldern, Feen und Prinzen, mit Monstern und Gefahren sind eben prima Vorstellungsfutter. Kein Wunder, dass sich immer wieder Illustratoren mit Wonne daran machen, sie in Farben und Konturen zu gießen.
Nun also als Comic. Aus dem deutschen Traditionshaus Ehapa. Vier Stück hat man sich vorgenommen: „Hänsel und Gretel“ (Philip Petit), „Das tapfere Schneiderlein“ (Mazan), „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ (Cécile Chicault) und „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ (Mazan). Im schicken, mittelalterlich angehauchten Hardcover und mit dicken, hochwertigen 125 Seiten.
Alle drei Autoren lassen sich mitreißen von der wunderlichen Aura der Geschichten. Philip Petit treibt Hänsel und Gretel durch eine Abenteuergeschichte der harten Sorte. Sein üppig gestalteten, wunderbar phantasievollen und heimeligen Bilder kontrastieren mit der grausamen Geschichte, in der ein Vater seine Kinder dem Tod aussetzen will. Hänsel und Gretel wirken hier nicht wie zwei brave, ansonsten konturenlose Kinder, sondern wie clevere Kobolde – gezwungen, in höchster Not über sich hinauszuwachsen.
Mazans Strich ist ein anderer: ein schlanker, cartoonhafter. Seine ulkigen Figuren und die spektakulären Perspektiven sorgen für subtilen Humor. Er hat ja auch die lustigeren Stories: die des findigen Schneiderleins und die des scheinbar so unbedarften Tölpels, der sich einfach nicht fürchten will. Mazan arbeitet mit eleganter Bildgestaltung und viel Hell-Dunkel-Kontrasten. Aber obwohl er seine Bilder insgesamt strenger arrangiert, frönt auch er immer mal wieder üppigen, detailreichen Kompositionen.
Cécile Chicault dagegen lässt gute Knollennasen und böse Hakennasen gegeneinander antreten. Bei ihr zerfließt die Farbpalette wiederum zu verschwenderischen Tableaus, in denen sich das Auge hemmungslos verlieren darf, bevor es weiter der spannenden Geschichte folgt. Sie experimentiert auch am meisten mit ungewöhnlichen Bildformaten und Rahmenformen – zum Beispiel, wenn der Leser in die Gedankenwelt des Teufels abtauchen darf.
Kleine Unbeholfenheiten in der Erzählweise mögen Geschmackssache sein – etwa wenn bei „Hänsel und Gretel“ Märchenfiguren in Comicmanier „Buuäääh“ schluchzen, obwohl der Rest der Story auf einem ganz anderen Erzählniveau stattfindet. Ansonsten aber ist die Liaison von Comic und Märchen eine grandiose Idee. Weil beide Metiers zaubern dürfen. Realismus spielt hier eine völlig andere, eigene Rolle. Und weil beide wie gemacht sind für Abenteuer, die die Augen tanzen lassen.
Wer keine Lust hat, sich die Geschichten vom Märchenonkel im Kassettenspieler erzählen zu lassen – obwohl auch das seinen Reiz hat! -, für den ist dieses Buch das Richtige. Noch mal Kind sein, ohne es zu merken. Und sich unterhalten lassen von vier rasant erzählten, meisterlich gestalteten Comics. Auch für Kinder, die´s tatsächlich noch sind, geeignet – die sollten aber vorher noch Gelegenheit für eigene Bilder im Kopf bekommen haben. Vielleicht durch den Kassettenmärchenonkel. Danach: Bahn frei für Petit, Mazan und Chicault.
Petit, Mazan, Chicault Grimms Märchen VÖ: 1.5.2006