Dieses ist die erste Besprechung eines der diesjährigen Kandidaten für den Edgar, Kategorie „Bestes Buch“.
Die Memoiren eines Überlebenden. So könnte man „Drama City“ von George Pelecanos umschreiben. Lorenzo Brown ist dieser Überlebende, der die Zeit seiner Jugend in der Gang, seine Zeit an der Seite des Drogenchefs und die Zeit im Gefängnis überlebt hat. Lorenzo Brown lebt und arbeitet in Washington, DC, einer Stadt in der man sich scheinbar eher um die Tiere als um die Kinder kümmert und die keinen Ehrgeiz erkennen lässt, in den schwarzen Ghettos den Teufelskreis von Jugendschwangerschaften, Perspektivlosigkeit und Jugendgangs zu unterbinden. Er kümmert sich nunmehr als Mitarbeiter bei Humane Society um die verwahrlosten Hunde und Katzen der Stadt.
George Pelecanos bleibt in diesem Buch seiner Stilistik treu. Kaum ein Autor wechselt so häufig und mühelos die Perspektive. Während wir dem Tagesablauf Lorenzo Browns folgen, seiner Bewährungshelferin und diversen Gangmitglieder diverser Gangs bei ihrem Tageswerk zusehen, erzählt er uns über die Stadt und ihre „Kultur“. Dabei beschreibt auch kaum ein anderer Autor seine „bad guys“ so warmherzig – um sie dann in der nächsten Szene „an die Wand zu fahren“. Und doch, trotz stilistischer Konstanz, das Buch wirkt reifer, weniger hektisch, als frühere Bücher.
Denn „Drama City“ ist, da es uns die Parallelwelt der Gangs noch schärfer und konturierter als zuvor darstellt, konsequenter. Bürgerlich konventionelle Protagonisten tauchen schier gar nicht auf, denn auch die Bewährungshelferin entpuppt sich als gebrochene Gestalt. In dieser Welt, in welcher der Gefängnisaufenthalt und der damit verbundene mentale Genickbruch Teil des normalen Lebensrisikos ist, gehört man schon mit Ende 20 zum Alten Eisen. Und trotz protziger Fahrzeuge sind die Gangmitglieder die ärmsten Menschen der Welt, die sich mit Ihren Sexheftchen in den heruntergekommensten Buden einen abjuckeln und die sich ihre Abende mit der PS2 vertreiben. Der Perspektivlosigkeit, soll das wohl heißen, können die Ghettokinder durch Gewalt nicht entkommen. Sie wird nur auf eine neue Stufe gehoben.
Nicht nur vom Aufbau, auch von der Sprache her, erweist Pelecanos sich als Meister. Dabei sind, meiner Meinung nach, diesmal die Szenen, welche bei den Treffen der NA, Narcotics Anonymous (1), spielen, besonders bemerkenswert. Den Vorträgen der Mitglieder bei den Sitzungen, welche zwischen Gospelgottesdienst und AA-Treffen angesiedelt sind, verleiht Pelecanos eine sprachliche Intensität, was ich von ihm sonst eher aus Actionszenen kenne.
Ist das Buch spannend ? Wer nach der Lektüre dieses Buches so fragt, hat es nicht verstanden. Natürlich beherrscht Pelecanos auch die Spannungsfolge, aber sie steht nicht im Mittelpunkt. Es ist ein Buch, so sprachlich gelungen, so perfekt komponiert, so reif, so (hintergründig) zornig, dass man den Autor auf Edgar-Kurs sehen kann: Hier hat sich ein Autor auf eine neue Stufe geschrieben.
1: Anonyme Treffen von – ehemaligen – Drogenabhängigen, die sich, ähnlich wie bei den Anonymen Alkoholikern, gegenseitig zu stützen versuchen.
George Pelecanos: Drama City.
Warner Books 2005. 289 Seiten. 5,89 €
(noch keine deutsche Übersetzung)