Stefano Massaron: Die toten Kinder

(2006 war ein gutes Jahr für unseren Juniorkritiker Jochen König: Ausbildungsplatz bei Hinternet ergattert (über Beziehungen), Mofa-Führerscheinprüfung bestanden (beim dritten Anlauf), rausgekriegt, dass Mädchen doch nicht so doof sind wie sie aussehen (Gerda!). Und jetzt die Krönung: Azubi Jochen darf auf dem heiligen Donnerstagsplatz des rezensierenden Platzhirschen seine Kritik an Stefano Massaron anbringen! Tatsächlich: ein gutes Jahr!)
Don’t trust him when he turns his back:
He looks at you.
Don’t trust him When his eyes are closed:
He still looks at you.
Devil Doll “The Girl Who Was…Death”

Zwei Menschen treffen sich auf einen langen Kuss, gehen im Bewusstsein auseinander sich nie wiederzusehen, und der Roman ist zu Ende. Ein versöhnlicher Schluss für ein ansonsten eher verstörendes Werk.

Im Sommer 1977 vertreiben sich die Kinder der Bienenstockbande in einem Vorort Mailands die Zeit mit allerlei Geplänkel, mit Macht- und kleinen Liebespielen, Kämpfen gegen eine apulische Kinderbande, die die Macht auf dem Schrottplatz neben der Bienenstöcke genannten Siedlung anstrebt, Eidechsenrennen, Pornos lesen oder heimliches Rauchen. Dann gibt es einen gewalt(tätig)en Einschnitt: die Bande findet eine übel zugerichtete und sexuell missbrauchte Mädchenleiche. Später taucht noch eine zweite Leiche auf, die Situation eskaliert in zwei Hetzjagden, von denen eine für einen der Beteiligten tödlich verläuft und für die ganze Gruppe gerade mal 9 -12 jähriger Jungen und Mädchen das Ende der Kindheit drastisch einläutet.

Im Sommer 2003 sitzt der Journalist Sandro Musumeci in seinem Büro und liest die E-Mail einer Leserin namens Cinzia Carminati, die sich als seine große Kinder/Jugendliebe entpuppt. Wie es die Synchronizität der Ereignisse will, kündigt sich gerade die Eröffnung eines Kindergartens in den ehemaligen Bienenstöcken an, dessen Namenspatron der Kinderschänder und –mörder jenes unheilvollen Sommers 1977 ist.
Man korrespondiert, trifft sich und mit diesem Zusammentreffen endet das Buch – wie oben erwähnt.

So springt der Roman zwischen den Zeitebenen 1977 und 2003 hin und her, beschreibt einfühlsam die Befindlichkeiten innerhalb der Gruppe, die Veränderungen im kindlichen Machtgefüge, lässt selbst das Kippen vom Räuber- und Gendarmspiel zur realen Mörderjagd plausibel erscheinen, eine Jagd, die allen Beteiligten über den Kopf wächst. Es gibt Einschübe über Zivilcourage (einer der wenigen Einwände gegen die Passagen aus der Sicht des jugendlichen Sandro: sämtliche Kinder agieren zu bewusst und zu erwachsen.), geographische Konflikte – die allerdings in der Mitte des Buches beiläufig versanden. Da scheint Massaron seinen Faden verloren oder weggeworfen zu haben, denn er lässt den Anführer der apulischen Kinderbande mit der Hauptfigur Sandro kollidieren, ohne das die daraus angedrohten Folgen im weiteren Verlauf auch nur in einem Nebensatz Erwähnung finden. Ein weiterer Schwachpunkt, der sich allerdings verschmerzen lässt.

Zwiespältig wird der Roman allerdings durch die „Stillstand“ genannten Kapitel, in denen der Vergewaltiger und Mörder als Erzähler fungiert. Hier darf er akribisch beschreiben wie er seine kleinen Opfer wahrnimmt und was er mit ihnen anstellt. Was ihn dazu treibt, warum er am Rande des Wahnsinns dem Schrottplatz, seinem rostigen Gott Leviathan huldigt, ihm blutige Opfer darbringt, bleibt unbeantwortet. Böse argumentiert, lesen sich diese Passagen wie Wichsvorlagen für Päderasten. Denn über die Motivation des Kinderarztes, plötzlich alle Fesseln der Zivilisation abzulegen und als sabberndes Monster mit heraushängendem Penis durch seinen Wirkungsbereich zu streifen, erfährt der Leser wenig. Doch Massaron gelingen auch hier großartige Szenen, etwa der Moment, als der Arzt einem jungen Patienten bescheinigt, er sei bald wieder gesund und könne seine kleinen Freundinnen ficken. Auf die erstaunte Nachfrage der Mutter des Kindes, schafft es der Arzt mit Leichtigkeit sie zu beruhigen. Als der Sohn den Satz des Arztes wörtlich wiederholt wird er von seiner Mutter handgreiflich zur Ordnung gerufen.
Hier – wie an anderer Stelle – sehen Kinder, was den Erwachsenen, die eh nur eine minderbemittelte Rolle spielen, entgeht: das Monster hinter seiner weißbekittelten Fassade.
Erst 2003 dürfen Erwachsene zu bewussten Wesen werden, und das auch nur, weil sie sich ihrer Vergangenheit stellen, die Kindheit mit einem versöhnlichen Kuss zum Abschluss bringen, in der Gewissheit, dass sie vorbei, aber nicht vergessen ist.

Unaufgeregt, in einer schlichten, aber präzisen Sprache, erzählt Massaron seine Geschichte vom Verlust der Unschuld, von Traumata, die das ganze Leben bestimmen, und die erst ihre Macht verlieren, wenn man sich ihnen stellt und sie überwindet. Nichts Neues unter der Sonne eigentlich, aber so eindringlich und überzeugend dargebracht, dass man gerne folgt und im eigenen Leben nach solchen dramatischen Fixpunkten sucht.
Ob die Täterperspektive mit ihren breit ausgemalten Schilderungen hier sinnvoll ist, mag jeder für sich selbst entscheiden; ich halte sie für weitestgehend überflüssig. Die alte Geschichte vom Schweigen, durch das man manchmal zum Philosophen wird, wenn man es denn getan hätte.
Trotzdem bleibt eine spannende, nachdenklich machende, düstere Geschichte, die uns klaräugiger in die reale Welt entlässt. Und das ist doch schon eine ganze Menge.

Jochen „es könnte aber auch eine ganze Ecke mehr sein“ König, Fast noch Nikolaus 2006.

PS.: „Ruggine“ (Rost) ist der wesentlich gelungenere Titel des Originals. Rost schmecken, riechen der Mörder, Sandro und Cinzia. Rost hat die Farbe und den metallischen Geschmack von getrocknetem Blut. „Saug es aus sonst bekomme ich Tetanus“, sagt Cinzia. Frisches Blut schmeckt besser. Rost ist eklig. Aber reicht das aus, um Psychopathen zu produzieren?

„Just think of me as one you never figured
Would fade away so young
With so much left undone
Remember me to my love, I know I’ll miss her.”

Neil Young, “Powderfinger“, richtig, vom Album “Rust never sleeps”

Stefano Massaron: Die toten Kinder. Rowohlt 2006 
(Original: „Ruggine“, Giulio Einaudi editore s.p.a., Turin, 2005, deutsch von Karin Rother). 
249 Seiten. 8,90 €

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