Zwei Meinungen, ein Beispiel

Welchen Gewinn hätte die Krimikritik, hätten die Leser von einem bloßen Nebeneinander des Pro und Contra zu Titeln auf der Krimiwelt-Bestenliste? Würde das genügen oder wäre es lediglich der Auftakt zu einem Hauen und Stechen, bei dem Irrtümer nachzuweisen und einzugestehen wären? Exerzieren wir das doch einmal stichwortartig an einem aktuellen Beispiel durch.

Das Buch stand wirklich auf der Bestenliste, Michael Connellys „Vergessene Stimmen“. In →meiner Rezension schrieb ich über den Autor und seine Strategie, sie habe ihn „nicht zum Schwätzer oder Moralisten“ werden lassen. →Walter Delabar nun sieht das ganz anders: „Der gesamte Roman ist von diesem Moralpathos, dieser Selbstgerechtigkeit und der darauf aufsetzenden Respekthascherei durchsetzt.“ Hm, das ist nun das genaue Gegenteil meiner Aussage, einer irrt hier, oder?

Es geht um Moral oder, genauer gesagt, um die Größe des Anteils moralischer Botschaft, die in „Vergessene Stimmen“ verpackt worden ist. Dass hier zwei Rezensenten zu höchst unterschiedlichen Bewertungen kommen können, mag schlicht an ihren nicht kongruenten Maßstäben, mit denen sie „Moral“ messen liegen. Was nun der einzige Grund wäre, den man unter „persönlichen Geschmack“ ablegen könnte. Generell einig dürfte man sich indes sein, dass ein Zuviel an moralischem Beigeschmack den Wert eines Buches mindert. Aber nun beginnen die „wissenschaftlichen“ Fragen: Was zählt zu diesen moralischen Botschaften, was nicht? Auch hier mag noch „Geschmack“ nachklingen, nicht aber, wenn ich als Kritiker zu identifieren versuche, ob diese Moral die Meinung des Autors oder einer Person seines Werkes ist. Letztere dürfte, wenn es zu ihrer Rolle gehört, so viel moralisieren wie sie will, es wäre nicht zu beanstanden. Beim Autor wäre man weit weniger tolerant. Gegenfrage: Wie aber unterscheidet man Autor- und Personenmeinung? Ist nicht das Personal auch Sprachrohr seines Schöpfers?

Und auch das: Wird ein Zuviel an Moralisieren vielleicht durch Gegenströmungen im Text ausgeglichen, in einen anderen Blickwinkel gestellt? Müsste man untersuchen.

Zuletzt: Es ist ein Unterschied, ob ich einem Michael Connelly Moralisieren vorhalte oder einem Friedrich Schiller. Zwischen beiden stehen 200 Jahre Ideengeschichte, beide haben in nicht so einfach miteinander zu vergleichenden historischen und Kontexten gearbeitet. Oder mit anderen Worten: Moralisieren hat bei Schiller grundsätzlich eine andere Funktion als bei einem heutigen Autor.

All dies nur in Stichworten. Wichtig ist die Erkenntnis: Stünden beide Rezensionen zu „Vergessene Stimmen“ nebeneinander, würden sie den Leser vielleicht im positiven Sinne verwirren. Würde man jedoch nun zu streiten beginnen, wer hier irrt oder nicht, verliefe man sich in einer komplizierten theoretischen Diskussion, an deren Ende keine „Auflösung“, sondern jeweils ein Gedankengebäude stünde, das des Walter Delabar und das des dpr. Beide würden im besten Fall ihre Urteile erläutern, revidieren wohl nicht. Für den Leser, der sich dafür interessiert, möglicherweise ein Gewinn; für den Leser, der auf klare Verhältnisse hofft, wohl keiner. Jeder der beiden Rezensenten kann Recht haben.

(Der Beitrag wurde ad hoc verfasst; ist ausbaufähig)

14 Gedanken zu „Zwei Meinungen, ein Beispiel“

  1. als Leser, lieber dpr, der ich nur bin, würde mich just ein Buch interessieren, das so unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Verwirrung irritiert — und haben Sie Irritation nicht als Produktivkraft gelobt. (Was Connelly angeht: ich bin immer noch nicht sicher, ob er nicht klug genug ist, beide Fraktionen zu bedienen, die ‚eigentliche‘, moralsuchende, und die ‚ironische‘. Aber das wäre eine andere Frage.)

  2. Exakt, lieber JL: Verwirrung als Produktivkraft. Beide Rezensionen nebeneinander müssen all jene verwirren, die Literaturkritik als einer exakten Wissenschaft zugehörig betrachten, also Bücher eindeutig von jedem Kundigen identisch lesbar, das Ergebnis, wie in einem „guten Krimi“, gesichertes Wissen. Es würde wenigstens Nachfragen provozieren, auf die die Rezensenten dann antworten könnten. Das Wesen von Literatur könnte im Idealfall zum Vorschein kommen: Sie irritiert. Punkt. Wenn sie wirklich gut ist. Nebenbei: In meinem hastig getippten Beitrag fehlt u.a. der Aspekt, wo Moral aufhört und das Moralisieren beginnt. Schon diese Frage könnte sich in einer Endlosschleife von Antworten aufhängen.

    bye
    dpr

  3. ich möchte bescheiden anmerken, dass man sich nicht zu sehr an diesem thema abarbeiten muss. im netz hervorragend dokumentiert ist der alljährliche bachmann-wettbewerb. dort lesen die autoren ihre texte und danach gibt es eine oft leidenschaftliche diskussion unter sehr unterschiedlichen kritikercharakteren – die in augenhöhe diskutieren. dem geneigten beobachter bleibt es selbst überlassen, was er sich für ein urteil bildet; der kenner wird ein urteil von iris radisch anders einordnen als das eines klaus nüchtern oder einer ilma rakusa.

    das zu verfolgen macht spaß, und natürlich am meisten, wenn es kontrovers wird. die textkritik legt unterschiedliche ansätze offen, und die einzelnen kommentare der kritiker haben keine epische länge.

    ein beispiel aus diesem jahr war die diskussion um den (experimentellen) text bodo hells. der orf dokumentiert nicht nur die texte, sondern auch die diskussion.

  4. Interessanterweise erinnert mit der Text von Walter Delabar an einen Vortrag während der ersten Krimitagung in Iserlohn, Anfang des Jahres. Ich meine sogar, einige der Stimmen da wieder zu hören. Während jedoch Dein Text, lieber dpr, in sich logisch und stimmig aufgebaut ist, finde ich den Text von Delabar in sich unschlüssig, da er selbst moralisiert („Das haben wir alle nicht verdient“, „Das ist gerecht, mindestens so gerecht wie die Strafen für Raubkopierer“, was wiederum einen verstecketen Moralanspruch beinhaltet) – also genau das tut, was er Connelly vorwirft.

    Darauf in einer Gegenkritik zu reagiern, halt ich für durchaus sinnvoll und legitim.

    Liebe Grüße
    Ludger

  5. Lieber Ludger,

    Delabar wertet — und er mißbilligt, was beispielsweise Wörtche (s. Bestenliste, Plärrer) lobt: die Darstellung und Bewertung von Polizeiarbeit bei Connelly. Witzig scheint mir, daß beide Rezensionen in der Lektüre übereinstimmen und keine Ironie sehen. Hätte ich Lust, den Roman ein zweites Mal zu lesen, würde ich (von „Blue Religion“ an) Ironie-Signale sammeln. (Ich könnte mich auch fragen, wie Kulturen aussehen, die den Text, den Wörtche und Delabar und dpr gelesen haben (und ich womöglich falsch lese) zu Bestseller- und Bestenlisten-Ehren verhelfen. Da allerdings trübt sich es bei mir ein.)

    Beste Grüße!

  6. Lieber JL,

    die Idee mit den Ironie-Signalen finde ich in Bezug auf Connelly interessant, da ich seine Romane so auch noch nicht gelesen habe. Allerdings halte ich das bei Übersetzungen für schwierig, wenn nicht sogar für unmöglich. Ohne Lektüre des Originals dürfte die Beurteilung, ob und wie Ironie übertragen wurde, schwierig werden. Vielleicht auch ein Ansatz für die Betrachtung der jeweiligen Kultur?

    Was ich mich frage: Gibt es „falsches“ Lesen von belletritischen Texten?

    Beste Grüße
    Ludger

  7. Lieber Ludger,

    falsches Lesen: man kann das Komplexitätsniveau eines Textes unterschreiten, oder umgekehrt: man kann ein Niveau unterstellen, das ein Text nicht hat (das ist nur ein Problem, wenn man über den Text spricht, in der stillen Kammer lese ich „Pocahontas“ als Liebesgeschichte …).

    Übersetzung/Kultur/Ironie: da kann ich nur zustimmen (darum lasse ich ja nicht davon ab, auf „Blue Religion“ zu verweisen, womit Connelly den ersten Teil von „The Closers“ überschreibt: der Verweis auf „civil religion“ ist mit Händen zu greifen, und „blue“ hat Bedeutungen, die mit „blau“ nicht zu erfassen sind).

    Beste Grüße!

  8. Ui, Leute, jetzt werden hier aber Fässer aufgemacht! Erst einmal aber merci, liebste Anobella, für den Hinweis auf Klagenfurt. Man kann diesem Wettbewerb (und der dort vorgetragenen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur generell) negativ gegenüberstehen, aber das Prinzip einer gewissen Transparenz ist schon lobenswert. Am Ende ist es auch nur statistisches Ergebnis, Frau A. kriegt sechs Stimmen, Herr B. nur fünf, also gewinnt Frau A. — ich meine, wenn ich Polemiker wäre, hier wäre ein Ansatz, gegen das System allgemein und damit auch gegen die Bestenliste zu wettern: dass sie „Best-heit“ suggeriert und doch nur Zahlenspiel meint, they paved paradise and put on a parking lot, wie Joni Mitchell singt. Aber ich bin ja kein Polemiker — bloß ein schüchterner, hilfsbereiter, klitzekleiner Rezensent, der mal das Fingerchen hebt und nicht das Beinchen.

    Nein, Ludger, es gibt kein falsches Lesen, es sei denn im richtigen. Will sagen: Ich lese einen Text so, wie es mir meine Intentionen, meine Werkzeuge, meine Erfahrungen vorschreiben. Noch mal den legendären Mann mit dem Hütchen aus der Erinnerung kramen: Der las seine Heftchen optimal und hätte sie falsch gelesen, wenn ihm plötzlich gedämmert hätte, Jerry Cotton weise bedenkliche Bezüge zum Herrenmenschentum auf. DAS wäre dann falsches Lesen im richtigen, das wäre Irritation, Lesen gegen meine Intentionen, meine Werkzeuge, meine Erfahrungen. Und, hm, genau um so irritiert zu werden, lese ich.

    Ironie, mein lieber JL: Ich habe Connellys semidokumentarische Dramaturgie in Verdacht, eine Art Ironieraster über den Text zu legen. Müsste das aber auch noch einmal näher überprüfen.

    Oh, jetzt aber aufhören. Bin im Moment ein wenig euphorisch, weil ich gerade vom Zahnarzt komme und der nichts Erschütterndes gefunden hat. Lediglich unten links müsste man noch mal übers Krönchen…aber nicht mehr vor Weihnachten…

    bye
    dpr

  9. ich würde, lieber dpr, (ehe ich mich jetzt wieder zu den literarischen Vätern versammle) die Perspektive bei „The Poet“ holen, wo Connelly das ganze Medien-/Zeichen-/Bedeutungs-Faß aufmacht und dazu noch höchst nervig mit dem Stammvater spielt.

    Ihnen herzliche Gratulation!

  10. „The Poet“? Stammvater? Sie meinen doch nicht the Poe-t? Nun, ich gestehe, das Buch noch nicht gelesen zu haben, gedenke es aber nachzuholen. Und apropos Stammväter: „Pocahontas“ als Liebesroman, „Steinernes Herz“ als humoresken Krimi, „Brand’s Haide“ nochmal als Liebesroman, „Zettels Traum“ als Variation von „Lolita“: Wer SO liest, versteht Schmidt, obwohl er die Komplexität der Texte ignoriert. Oder weil ers tut.

    bye
    dpr

  11. tolle, lege: ja, Poe. Da gibt es zwei Serienkiller, und der eine hinterläßt bei seinen Leichen immer Poe-Zitate, an deren Interpretation sich die Bullen die (gestatten Sie?) Zähne ausbeißen.

    Nu häng‘ ich immer noch hier rum, während im andern Fenster „Cabanis“ wartet.

    Grüße!

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