Literarische Krimis – eine Reise ins Herz der Finsternis (2)

Wo wir stehengeblieben waren

Bei zwei Zitaten und der Aufforderung, ihre literarischen Qualitäten zu beurteilen:

„Der Kampf war kurz und tödlich. Martin pochte der eigene Herzschlag in den Ohren, und sein Finger am Abzug zitterte, als er drauflosschoss, ohne sich groß Zeit zum Zielen zu nehmen. Er gab den Gefangenen Feuerschutz, als sie säbelschwingend und wild brüllend die Bühne angriffen. Der Warlord, der auf seinem Thron Hof gehalten hatte, ging hinter dem Sessel in Deckung, während seine völlig überrumpelten Leute verzweifelt Widerstand leisteten.“

„Der andere drehte den Kopf, und Jo handelte blitzschnell. Die Lampe bekam einen Schlag, dass sie vom Tisch segelte und im Fallen den gewünschten Kurzschluss von sich gab. Sofort brannte die Sicherung durch. Das Licht erlosch im ganzen Appartement. Jo dreht sich gleichzeitig und entging so der Kugel. Bis sich der andere auf die Dunkelheit eingestellt hatte, traf ihn Walkers hochbrisante Faust.“

Weiter mit der Sprache,

die doch das, was „literarisch“ ist oder sein könnte, am ehesten zu identifizieren imstande sein sollte; glaubt man. Und irrt. Die beiden zur Auswahl gestellten Zitate jedenfalls können den Unterschied zwischen „literarischem“ und „Nur“-Krimi offensichtlich nicht verdeutlichen, markieren dem ungeachtet jedoch eine Höhepunkt des Genres respektive sind einem Produkt seiner nach allgemeiner Auffassung trivialsten Ausprägung entnommen. Zitat 1 stammt aus Robert Littells „Die kalte Legende“ (Deutscher Krimipreis 2007), Zitat 2 aus C.H. Guenters Kommissar-X-Roman „Der Mann aus dem Nichts“. Beide entsprechen offensichtlich nicht dem, was wir unter einer „literarischen Sprache“ verstehen, dennoch sind sie passgenau gearbeitet. Die Passage aus „Die kalte Legende“ vermittelt uns in der Diktion des Actionkrimi-Genres eine Szene, die unter beinahe endzeitlich-futuristischen Bedingungen auf einer Insel im Aralsee spielt. Sie ist PULP und konstruiert eine der zahlreichen Sprachebenen in Littells Roman, den man mit Fug und Recht ein Meisterwerk nennen kann. Guenter hingegen arbeitete nicht weniger passgenau; er hatte einen Kommissar-X-Roman zu verfassen mit genauer Vorgabe des Umfangs und der Dramaturgie. Die Sätze mussten kurz, knallig, sofort zu visualisieren sein, keine Fremdwörter, wenn möglich, keine Satzkonstruktionen jenseits des Verarbeitungsvermögens der intendierten Leserzielgruppe, die über einen Text nicht nachdenken möchte, sondern ihn wie einen Kinofilm konsumieren, was ihr gutes Recht ist.

Sprache als solche ist also weder literarisch noch unliterarisch. Sie ist ein Werkzeug, ein Element der Literatur, das nur in Verbindung mit anderen wirkt und bewertbar ist. Was wiederum nicht ausschließt, dass es falsche, versatzstückhafte, langweilige, überkandidelte, mit Sirup übergossene oder von der Säure der dichterischen Ehrgeizes verätzte Sprache gibt. Ein Urteil erlaubt aber immer nur das Große=Ganze des Textes. Selbst dort, wo wir angesichts von Sprachbearbeitung schier vor Ehrfurcht zu erstarren meinen, glitzert die Wortwelt selten aus sich selbst oder für sich selbst. Weniges nur reißt uns so mit wie die Seiten in Vladimir Nabokovs „Lolita“, wo wir an einer rasanten Fahrt durch die Vereinigten Staaten teilnehmen, von Motel zu Motel – und auch das nur, weil es der Sprache gelingt, das was sie erzählen soll (eben jene Fahrt), in die richtigen Worte zu fassen. Dennoch haben wir hier den Fall, wo uns das Erzählte, die Handlung verglichen mit ihrer sprachlichen Form wie eine Nebensache erscheint.

Aber was versteht der Normalleser von Kriminalliteratur nun unter „literarischer“ oder „schöner“ oder „atmosphärischer“ Sprache? Wohl so etwas wie das:

„Der Tag, der nun immer mehr heraufzog, war klar und mächtig, die Sonne, ein makelloser Ball, warf harte und lange Schatten, sie, höher rollend, nur wenig verkürzend. Die Stadt lag da, eine weiße Muschel, das Licht aufsaugend, in ihren Gassen verschluckend, um es nachts mit tausend Lichtern wieder auszuspeien, ein Ungeheuer, das immer neue Menschen gebar, zersetzte, begrub. Immer strahlender wurde der Morgen, ein leuchtender Schild über dem Verhallen der Glocken.“

DAS ist Literatur! Nun, es ist immerhin Friedrich Dürrenmatt, „Der Richter und sein Henker“, mithin aus jenem Werk, das, wann immer die Rede auf „literarische Krimis“ kommt, als Belegstück herhalten muss. — Oder ist es vielleicht gar nicht Dürrenmatt? Haben wir diese Passage aus dem ambitionierten und von ihrer VHS-Schreibgruppe hochgelobten Krimierstling einer Oberstudienrätin entwendet? Nein, es ist wirklich Dürrenmatt, doch nichts spricht dagegen, dass jetzt, genau jetzt, unsere fiktive Oberstudienrätin ein ähnliches Szenario entwirft. Denn es kann beides sein: Kunst oder Kitsch, atmosphärisch dicht oder sprachlich löchrig. Jedenfalls ist es beliebig reproduzierbar, so wie jedes Gemälde von Goya, Van Gogh oder wem auch immer von halbwegs talentierten Absolventen einer Kunsthochschule kopiert werden kann. Setzen wir zwei Passagen aus einem weiteren Kriminalstück dagegen:

»Wo ist der Graf?« fragte ich ihn. »In dem Sterbezimmer.« »Allein?« »Der Arzt ist bei ihm.« »Sonst Niemand?« »Die alte Kammerfrau der hochseligen Gräfin.« »Und die Gouvernante?« »Sie ist nicht da.« »Der Graf erzählte mir von ihrer treuen Pflege der Verstorbenen.« »Ja.« »Und sie ist nicht da?« »Nein.«»Sie ist wohl angegriffen?«»Es ist möglich.«

(…)

Die Kinder waren frische, fröhliche Mädchen von sechs bis zehn Jahren. Sie strickten, einige näheten auch schon. Sie waren hier in einer Privatschule der kranken Dame, das sah man. Die Nachmittagsstunden der Schule – und es war Nachmittag – waren zu jenen Arbeiten bestimmt. Die Lehrerin überwachte sie, unterwies, half. Sie erzählte dabei den Kindern hübsche Geschichten, freundliche Märchen, die Kinder erzählten sie sicht unter sich. Lehrerin und Kinder liebten sich, auch das sah man.

Dies schrieb Jodokus Donatus Hubertus Temme, u.a. Autor der „Gartenlaube“, Zeitgenosse u.a. Theodor Fontanes, dessen „Unterm Birnbaum“ in keiner Sammlung „Klassischer deutscher Krimis“ fehlen darf, während „Ein Amnestirter“ von Temme von der Literaturgeschichte nicht gewürdigt wurde. Würde man mir eine Pistole an den Kopf setzen und mich zwingen zu entscheiden, ob ich „Unterm Birnbaum“ oder „Ein Amnestirter“ als „literarischen Krimi“ einstufen würde, ich antwortete – wie aus der Pistole geschossen: Temme. Und hätte damit aus der Sicht von 99% aller Leser die falsche Antwort gegeben.

Temme, der kein Literat im herkömmlichen Sinne war, sondern Jurist. Temme, der sich seine Klarheit, seine Distanz, die ihn als Jurist auszeichnete, auch beim Schreiben bewahrte und dadurch zu einem eigenen, höchst atmosphärischen Stil kam, der deshalb „literarisch“ genannt werden könnte, weil er uns jene Klarheit und Distanz miterzählt. Temmes Pech aber war, dass er Kriminalgeschichten schrieb, um Kriminalgeschichten zu schreiben. Seine Geschichten haben selten einen doppelten Boden, eine moralische Nutzanwendung, sie arbeiten nicht mit schönen „poetischen“ Bildern, Metaphern, Vergleichen. Temme, kein Zweifel, ist ein Autor des Genres, so wie auch Edgar Poe einer war, Poe, der ja die „Detektivgeschichte“ erfunden hat und in ihr ebenfalls nichts von dem Poeten ahnen lässt, der uns „The Raven“ bescherte oder das bilderdichte „Arthur Gordon Pym“. „Literarisch“ liegen seine Detektivgeschichten weit unter diesem Niveau – große Literatur sind sie dennoch.

Fassen wir kurz zusammen: Die Sprache allein verleiht nicht das Attribut des Literarischen. Sie interagiert mit anderen Elementen und Absichten des Textes. Eine „schöne literarische Sprache“ kann man sich aneignen wie jede handwerkliche Grundlage, sie ergibt bestenfalls gute, zumeist jedoch sterile, für die Massenproduktion taugliche Ware. „Literarische Sprache“ ist Moden unterworfen. Sie wird von Autoritäten festgelegt, die damit zugleich bestimmen, was „unliterarische Sprache“ ist. In einer gerechteren Welt würde man Jodokus Donatus Hubertus Temme zu den besten Stilisten der Kriminalliteratur zählen. In einer gerechteren Welt müssten wir uns allerdings auch nicht damit abplagen, den Unterschied zwischen „literarischen“ und „nichtliterarischen Krimis“ kritisch zu untersuchen. Es gäbe ihn nämlich nicht.

Auf der nächsten Etappe unserer Reise ins Herz der Finsternis gelangen wir an einen schaurigen Ort, wo man Menschen, kaum dass sie ein Kind gezeugt und zur Welt gebracht haben, unter Schmähungen in den Orkus des Vergessens wirft.

(Diese Abhandlung erhält kostenlos als limitierten, nummerierten und handsignierten Sonderdruck, wer bis zum 1. März entweder das „Krimijahrbuch 2007“ (zum Vorzugspreis von 16 Euro) oder / und „Die Zeichen der Vier. Astrid Paprottas Ina-Henkel-Kriminalromane“ (ca. 12 Euro) hier vorbestellt.)

2 Gedanken zu „Literarische Krimis – eine Reise ins Herz der Finsternis (2)“

  1. Noch ein Schritt: Wenn ich einen Menschen beschreibe, wie er sich z.B. mühsam etwas zusammenreimt, dies bedenkend und jenes, wie ihm alles sehr schwer fällt, weil er vielleicht Ungeheuerliches denkt, dann muss sich die Sprache anpassen. Darf sie nicht glatt sein. Können Sätze auch abbrechen. Druckreif parlierende Leut in Romanen sind Lügner, zumal wenn sie alle gleich reden, sie haben ihre Sprache nicht, und das bezieht sich nun wirklich nicht nur auf das, was zwischen Anführungszeichen steht.
    Wenn manche Leser dann sagen, ey, wie is dat denn geschrieben, ist aber komisch, dann stimmt’s. War mehr Arbeit, es so zu schreiben – *schön* geht immer, passt aber selten.
    (Darum gefällt mir auch Tannöd so gut)
    Die Sprache ist Instrument, nicht Selbstzweck.

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