„Als er abends im Bett lag und versuchte einzuschlafen, dachte er, so ist das Leben, eine Unmenge von Rolltreppen, die niemals anhalten, und niemand weiß, von wo und von wem sie gesteuert werden, sicher ist nur, dass es ohne das geringste Mitgefühl, ohne Logik oder gar Absicht geschieht. Manchmal führen sie in die richtige Richtung und wir sind eine Zeit lang glücklich.“
Gelingt es auch Ihnen nicht, diese Zeilen ohne das sich immer pentranter in Bauchhöhle und Hirnkasten breit machende Gefühl eines lästigen Schmerzes zu lesen, einer Mixtur aus Migräneanfall und Sodbrennen? Das, so urteilen wir sofort, ist er, der „literarische Krimi“, wie ihn die im vorstehenden Exkurs beschriebenen Kreaturen lieben. Sprachlich altbacken und mausetot, inhaltlich purer Bildernonsens. Wir klappen das Buch schnell zu und warten darauf, dass der körperliche Schmerz sich verflüchtigt.
Und dennoch: Ich lese Eugenio Fuentes, aus dessen neuestem Roman „Das Blut der Engel“ soeben zitiert wurde, recht gern. Denn der Mann hat ein literarisches Konzept. Seine Figuren posieren, sie deklamieren druckreif, jeder Gedankenfurz wird in die Rohseide poetischer Mongolfièren gehüllt, man agiert auf einer Bühne, zweitklassige Schauspieler, die ihr drittklassiges Dasein in den Zuschauerraum wimmern. Man muss das nicht mögen, weder sprachlich noch sonstwie. Anerkennen sollte man indes, dass Fuentes seine Absicht sowohl sprachlich als auch dramaturgisch als auch inhaltlich literarisch gelungen ausbreitet. Die Sprache ist der Intention angemessen, sie transportiert die Geschichte durch die Banalitäten des Alltags und konterkariert sie mit dem Unerhörten eines Verbrechens.
Aber das ist der Punkt. Fuentes schreibt KRIMINALromane, sein Serienheld heißt Ricardo Cupido – und in „Das Blut der Engel“ begegnen wir ihm erstmals auf Seite 85. Nicht dass er fortan im Mittelpunkt stünde. Cupido ermittelt, ja, aber er kommt zu keinem vernünftigen Ergebnis. Die Lösung des Falles geschieht auf anderem Weg, Cupido reagiert nur. Selbst das große und dramatisch angelegte Finale (inklusive Kindesentführung) scheint Fuentes völlig zu verhauen, indem er es NACH den Ereignissen in wenigen lapidaren Sätzen schildert. Aber auch das bestärkt uns in unserer Mutmaßung, Fuentes habe einen „literarischen Krimi“ verfasst: Das „Kriminal-“ ist, so sagen die einen, lediglich aufgepfropftes Beiwerk und daher ärgerlich, beziehungsweise, so halten die anderen dagegen, es wurde der „literarischen Absicht“ untertan gemacht, was wiederum aus dem „Nur-Krimi“ einen „literischen mit Mehrwert“ formt.
Fuentes hält sich jedenfalls nur widerwillig und unbefriedigend an die „Genregesetze“. Der Detektiv steht nicht im Zentrum, er trägt zur Lösung des Falles nur wenig bis gar nichts bei, ein Spannungsbogen lässt sich nicht ausmachen, der finale Thrill bleibt ein flüchtiges Prickeln auf der Haut. Auch das ist ja ein Indiz für „literarisch“: Sich den Genreregeln nicht beugen, sich ergo vom Genre emanzipieren.
Aber woher stammen eigentlich diese „Genreregeln“? Im Zweifelsfall AUCH von Edgar Poe. Ein Rätsel, ein deduzierender Ermittler, eine Auflösung. Das ist der Kern, den es zu spalten gilt, will man wahrhaft „literarisch“ handeln, siehe Fuentes. Doch hatte etwa Poe, als er seine Geschichten schrieb, kein literarisches Konzept? Oh doch, sogar zwei. Eines, das die Welt als qua Deduktion erklärbar, transparent, beherrschbar machen sollte (das waren die „Detektivgeschichten“), ein anderes, das die Welt als, je weiter wir mit dem Verstand in sie dringen, unerklärlich, opak und anarchisch entlarvte (das waren alle anderen literischen Arbeiten Poes, mit Ausnahme von „Heureka!“, was zu erklären hier aber zu weit führen muss).
Die ehernen Regeln des Genres haben also einen literarischen Hintergrund. Dann wurde das Genre „trivialisiert“, was seinen Höhepunkt in den Sherlock-Holmes-Geschichten Conan Doyles fand. Tatsächlich? Wenn wir „Literatur“ abseits ihrer Bauanleitungen als Reaktion auf die Zeit, in der sie entstand, definieren, müssen wir selbst den Sherlock-Holmes-Abenteuern eine Affinität zum „Literarischen“ zubilligen. Sie passen nämlich perfekt in eine Zeit, die mit Hilfe des Verstandes die Welt zu beherrschen trachtete, sie passen zum Glauben an den technischen Fortschritt, zum Glauben, die Psyche ließe sich analysieren wie eine tote Fliege unter dem Mikroskop, sie passt auch zu jenem „anderen Genre“, der Science Fiction, das in dieser Epoche mit Jules Verne erst richtig – und auch schon „trivialisiert“! – anhob.
Wie war das nun aber mit dem „Kriminal-“? Ging es Poe um Verbrechen und Verbrecher, um Schuld und Sühne? Keineswegs. Auch Doyle war frei von der Absicht, in die Abgründe der menschlichen Seele und der sie reglementierenden und strafenden Gesellschaft zu blicken. Das was wir heute als einen Kern „literarischer Krimis“ begreifen, dieser Blick hinter die Kulissen, dieses bloße Benutzen von „Genregesetzen“ – es kam ganz woanders her. Teilweise aus der Tradition der „Verbrechensliteratur“, der wir das ständige Moralisieren und Grübeln aktueller wertvoller Krimikost verdanken, teilweise aus der billigsten Kolportage, die uns „Dramatik“ unterjubelte, indem sie uns schaudernd in die schwarze Seele des Verbrechens schauen ließ.
Kurzum: Ausgerechnet das, was wir heute „Nur-Krimi“ nennen, entsprang einem literarischen Konzept. Und ausgerechnet das, was den „literarischen Krimi“ ausmacht, hat seine Wurzeln nicht selten entweder im Trivialisierten oder von Natur aus Trivialen.
Noch einmal zurück zu Fuentes. Dessen Beispiel zeigt uns, dass ein literarisches Unterfangen auch mit völlig überkommenen und, betrachtet man sie separat, künstlerisch völlig wertlosen Mitteln zum Erfolg geführt werden kann. Das war schon immer so. Werten wir heute „Druckreife“ und weichgespülte Syntax als „schlechten Stil“, sollten wir nicht vergessen, dass dieser schlechte Stil einstmals state of the art war, also: guter Stil. Wohingegen es als „unliterarisch“ galt, etwa so zu schreiben:
„Fünf Jahre?“ fragte sie.
„Sechs“, verbesserte ich.
„Verdammt!“ sagte Paddy, grinste und winkte einem Kellner. „Eines Tages leg ich noch mal einen Schnüffler rein.“
So spricht man in Dashiel Hammetts Erzählung „Das große Umlegen“, und das ist ja nun wirklich keine „literarische Sprache“, das ist doch astreines Pulp-Gebabbel. Ja! Und steht doch auch im Dienste eines literarischen Konzepts, manifestiert eine LITERARISCHE Weiterentwicklung des Genres auf dem Fundament seines scheinbar und vielgeschmähten Trivialen.
Putzig wird das alles durch den Umstand, dass die Auffassung, was denn „literarisch“ sei, durch das blanke Abgleichen von fragwürdigen Klischees erreicht wird. Hielt man Hammett zum Zeitpunkt des Abfassens von „Das große Umlegen“ zu unliterarisch, mag das ja noch angehen, da Entwicklungen meistens erst dann akzeptiert werden, wenn sie schon längst keine mehr sind. Ich möchte allerdings wetten, dass auch heutzutage das Gros der Leser „literarischer Krimis“ eher zu Fuentes und seiner seit langer Zeit anachronistischen Sprache tendiert als zu Hammett, der im Vergleich dazu geradezu als modern durchgeht. Was nun nicht gegen Fuentes auszulegen wäre, würdigte man sein durchaus vorhandenes und konsequent umgesetztes literarisches Konzept. Genau das aber tut man nicht. Entweder ächtet man dieses Konzept, weil es sich einer formelhaft-oberflächlichen Sprache bedient, oder man akzeptiert es, weil man diese formelhaft-oberflächliche Sprache für literarisch hält. Beides verfehlt das Eigentliche von Literatur meilenweit und läuft sich im Universum der ach so verschiedenen Geschmäcker, über die sich bekanntlich nicht streiten lässt, tot.
Literaturanalyse ist aber stets ein, wie man zu sagen pflegt, ganzheitliches Betrachten und Kritisieren. Ich kann nicht etwas mit der Zange der Literaturanalyse anfassen, von dem ich von vornherein behaupte, es sei überhaupt keine Literatur. Ich kann auch nicht das Verletzen oder Neuauslegen von „Genregesetzen“ heranziehen, um etwas als Literatur oder Nichtliteratur zu markieren. Denn wenn auch Literatur immer das Zusammenspiel von Sprache, Intention, Dramaturgie und Inhalt ist, so bleibt doch zweifelsfrei der INHALT das am wenigsten interessante Element dabei. Es ist, einfach gesagt, schlicht wurscht, ob ich über die Ermordung eines Menschen oder einer Butterblume schreibe. Wenn ich aber über die Ermordung eines Menschen schreibe, schreibe ich Kriminalliteratur. Ob gute oder schlechte, sei dahingestellt. Auch das bemisst sich nicht am Einhalten oder Nichteinhalten von Regeln. Täte es das nämlich, wäre dies der einzige Grund, Kriminalgeschichten NICHT als Teil von Literatur zu akzeptieren. Denn Literatur ist ein immerwährendes Spiel mit Regeln und ihrer Modifizierung, nicht zum Selbstzweck allerdings, sondern zum Zweck, die Wirklichkeit mit anderen Augen zu sehen. Fuentes dafür zu tadeln, dass er das „Kriminal-“ missbraucht, weil er es offensichtlich vernachlässigt, ist genauso wenig ein Kriterium wie das Lob, Fuentes habe genau deshalb einen „literarischen Krimi“ verfasst, WEIL er „die Regeln“ großzügig auslegt. Gerade den Puristen, für die nur „Krimi“ ist, was schon seit hundert Jahren „Krimi“ ist, sei ins Stammbuch geschrieben, dass ausgerechnet die Schutzheiligen, auf die sie sich berufen, das anders sahen, von Poe über Conan Doyle und Hammett und Chandler und McBain und Himes und Izzo undundund… Und allen anderen schreiben wir ins Stammbuch: Ein Genre, das sich entwickelt, wird dadurch nicht „literarischer“, es folgt ganz einfach seiner Bestimmung als Literatur. Wenn es das nicht mehr tut, ist es tot wie jedes andere Pflänzlein auch.
Um die Genreregeln soll es im abschließenden Teil dieser Überlegungen gehen, wenn wir uns nämlich den Glücklichen des diesjährigen Deutschen Krimipreises zuwenden wollen, von denen ja fünf angeblich deshalb literarisch sind, weil sie die Grenzen des Genres überschreiten. Tun sie das tatsächlich?
dpr