Bitte keine historischen Kriminalromane mehr, die „hervorragend recherchiert“ sind! Keine Potemkinschen Dörfer mit Baumaterialien aus Geschichtsbüchern, keine „Ausflüge in die Vergangenheit!“ Mag ja alles lehrreich sein. Aber eben doch nur Vergangenheit aus zweiter Hand. Gebt uns Originale – oder aktuelle Krimis, die sich nicht in Faktenhuberei erschöpfen. Gebt uns, zum Beispiel, Anne Perry.
Nach einigen beruflichen und privaten Desastern ist Inspector William Monk bei der Londoner Flusspolizei gelandet, wo man ihn argwöhnisch beäugt. Während einer Dienstfahrt auf der Themse wird er Zeuge, wie die junge Mary Havilland von einer Brücke ins Wasser stürzt und ertrinkt. Mit ihr stirbt Toby, Verlobter des Opfers und jüngerer Bruder des Bauunternehmers Alan Argyll. Hat er Mary vom Selbstmord abhalten wollen und wurde von ihr mit in den Tod gerissen? Vieles spricht dafür, denn Marys Vater, Ingenieur in Argylls Unternehmen, hat selbst erst vor kurzem Selbstvermord verübt, nachdem seine Warnungen vor den Gefahren beim Bau eines neuen Abwassersystems für London verlacht, in den Wind geschlagen wurden. Mary hatte sich in den Kopf gesetzt, ihren Vater zu rehabilitieren – und ist damit vielleicht einer unangenehmen Wahrheit gefährlich nahe gekommen.
Wir befinden uns im London des Jahres 1864. Die Stadt ist noch geschwächt von einer Typhusepidemie, das neue Abwassersystem wird dringend benötigt, koste es, was es wolle. Doch die neuen Maschinen graben sich ohne Rücksicht auf geologische Gegebenheiten durch die Erde, die Arbeiter verrichten ihr Tagwerk auf einem Pulverfass, ganz zu schweigen von denen, die im Dunkeln der Kanalisation ihr Leben fristen. William Monk, der weder bei Mary noch ihrem Vater an die Selbstmordtheorie glaubt, gerät in eine unbekannte, bedrohliche, immer auch schmutzige und armselige Welt.
Das klingt nun alles sehr nach Charles Dickens, und tatsächlich führt uns Anne Perry in die Herrenhäuser ebenso wie in die Elendsquartiere Londons, macht uns bekannt mit den Hungernden, den Invaliden, den Eltern- und Heimatlosen, den Geschäftemachern und Gutsituierten. Aber das ist doch nur die Kulisse, wäre, gäbe es sonst nichts als die üblichen pittoresken Genrebildchen, bestenfalls ein netter Dickens-Abklatsch, ein weiterer Versuch, uns die Vergangenheit aus Druckerschwärze und Papier nachzubauen.
Wer indes Perry kennt, weiß, dass ihr Thema ein anderes ist: die Situation der Frauen im Viktorianischen Zeitalter, ihre Nöte, ihre Forderungen, ihr Unterdrücktsein. Auch „Das dunkle Labyrinth“ wartet folglich mit den Spielarten weiblicher Existenz auf: Frauen zwischen Familie und Beruf, ihrer Rolle zwischen Püppchen und Arbeitsmaschine, Frauen als Anhängsel und Abhängige. Es gibt starke Frauen wie Hester Monk, die auf eigene Faust Nachforschungen über das Schicksal Marys anstellt, es gibt schwache wie Alan Argylls Angetraute Jenny, Marys Schwester. Um all diese Frauen geht es, und hier liegt auch der Schlüssel zur Klärung der tragischen Umstände zweier Todesfälle.
Wie immer erzählt Anne Perry ihre Geschichte sehr gemächlich, mit vielen, manchmal vielleicht zu vielen Wiederholungen. Aber sie schafft es damit, ein stimmiges Bild jener Zeit zu malen, ohne dabei Historie als bloße Kulisse aus Fakten und Klischees zu missbrauchen. Sie analysiert Zustände – die der Frauen, die des Fortschritts allgemein – und verbindet diese Analyse mit einem Kriminalfall typisch englischer Machart. Die Leser wissen natürlich sofort, wer hinter allem steckt – und werden am Ende angenehm enttäuscht.
Historische Kriminalromane, dies das Fazit, können funktionieren, wenn sie Szenarien schaffen, die gesellschaftliche Stimmungslagen in all ihrer Komplexheit unter die Lupe nehmen und abseits von Geschichtstourismus erzählen. Anne Perry beherrscht diese Kunst.
Anne Perry: Das dunkle Labyrinth. Goldmann 2007 (Original: „Dark Assassin“, 2006, deutsch von Peter Pfaffinger). 447 Seiten. 12 €