Dieses ist die fünfte und letzte Besprechung eines der Kandidaten für den Edgar des Jahres 2007, Kategorie „Bestes Taschenbuch“.
Die Entstehung von „The Open Curtain“ dauerte mehrere Jahre und begleitete Brian Evenson bei seinem Weg aus der Gemeinschaft der Mormonen. Das Buch, so schreibt er in einem ausführlichen Nachwort, mache diesen Weg ein Stück nachvollziehbar. Auch wenn Evenson auf eigene Erfahrungen zurückgreifen konnte, denn nach seinem ersten Buch war er, auch in seiner Funktion als Dozent am mormonischen Brigham Young University, unter Druck gesetzt worden, das Schreiben derartiger Bücher zu unterlassen: herausgekommen ist keine – im Stile einer „hard boiled – Abrechnung mit den Mormonen und dem gesellschaftlichen Druck, den sie gegen „Abweichler“ aufbauen.
Evenson, der für eine seiner früheren Kurzgeschichten den Preis der „International Horror Guild“ bekommen hat, ist ein Autor, der das in der Tiefe des Menschen waltende Grauen darstellt, und so ist „The Open Curtain“ ein mutiges, ein verstörendes, ein außergewöhnliches Buch, welches den Weg eines Jugendlichen in den vollkommenen Wahn beschreibt.
Rudd Theurer ist ein kleiner Junge, der, nach dem Selbstmord des Vaters, alleine mit seiner Mutter lebt. Dieser Selbstmord ist, bei Mormonen vielleicht noch ausgeprägter als sonst, ein Tabu und so rennen alle Bemühungen Rudds, mehr zu erfahren, ins Leere. Und so langsam, von Evenson wunderbar glaubwürdig und scheinbar nur nebenher dargestellt, entfremden sich Mutter und Sohn.
Zufällig stößt Rudd auf einen Hinweis, dass sein Vater mit einer anderen Frau einen zweiten Sohn hatte, aber auch hier werden alle seine Fragen angeblockt. Jahre später bringt er den Mut auf, den möglichen Halbbruder ausfindig zu machen und aufzusuchen.
Rudd ist ein Sonderling, einer, der immer ein wenig bei den Erwachsenen aneckt und als schwierig verschrien ist. Als er bei Nachforschungen für die Schule in einer alte Ausgabe der „New York Times“ liest, wie der Enkel des Gründers der Mormonen, William Hooper Young 1902 des (Ritual-)Mordes an einer jungen Frau angeklagt und verurteilt wurde, fühlt Rudd sich auf eine eigentümliche Art und Weise gepackt. Obwohl sein Halbbruder sich ihm gegenüber seltsam distanziert verhält, ist er mittlerweile ein wichtiger Bezugspunkt für ihn. Gemeinsam versuchen sie die Zusammenhänge des damaligen – realen – Falles zu verstehen.
„The Open Curtain“ ist kein Buch, welches sich in die gängigen Schemata für Krimis unterbringen lässt. Das Rätsel um Hooper Young spielt in diesem Zusammenhang keine wesentliche Rolle. Einzig die Person Rudd Theurer und ihr „Abstieg zur Hölle“ steht im Zentrum des Interesses: Selten hat man letzte 50 Seiten gelesen, die so packend, so intim eine psychische Innenwelt darstellen. Brian Evenson ist ein hervorragender Erzähler, der gänzlich unaufgeregt Dramatik erschafft und dessen „The Open Curtain“ so ein wenig an die Kurzgeschichten Poes erinnert.
Zusammenfassung
Vermutlich wird sich auch dieses Jahr der Gewinner des Taschenbuch-Edgar nicht in weitere Gewinnlisten eintragen können. Abgesehen von Paul Levines „The Deep Blie Alibi“ sind die diesjährigen Kandidaten für den „Taschenbuch-Edgar“ keine Bücher für „Mainstream-Leser“.
Letztlich ist es natürlich eine subjektive und kaum vorsagbare Entscheidung der Jury, wer den Edgar gewinnt. Dennoch: Drei Bücher ragen heraus. Im Vergleich können Naomi Hiraharas atmosphärisch gelungenes „Snakeskin Shamisen“ und das komische, aber doch zu sehr am Vorgänger ausgerichtete „The Deep Blue Alibi“ nicht das Niveau halten.
Aus einer Liste von guten Büchern ist Evensons „The Open Curtain“ das eindeutig herausragende Buch, dessen Wahl jedoch Mut bedeutete, denn zu eindeutig geht dieses Buch an Massengeschmack und -erwartung vorbei. Aber auch Massimo Carlottos verstörendes und gut erzähltes „The Goddbye Kiss“ wäre ein würdiger Preisträger. Gegen das Buch spricht letztendlich, dass 2005 mit Domenic Stansberrys „The Confession“ ein Buch ähnlicher Stilistik den Preis gewonnen hatte. Patrick Neates „The City of Tiny Lights“ wiederum ist ein Buch, das Humor und Substanz bietet, wo „The Deep Blue Alibi“ mit vordergründigem Klamauk aufwartet. Es ist das Buch, welches das literarische Feuilleton am ehesten zufrieden stellt, dessen Rätsel aber auch am wenigsten Substanz aufweist.
Brian Evenson: The Open Curtain.
Coffee House Press 2006. 219 Seiten. 13,50 €
(noch keine deutsche Übersetzung)