Stieg Larsson: Verdammnis

Willkommen im Zoo der nicht artgerecht gehaltenen Krimikonsumenten. Enge Käfige mit rostigen Gitterstäben, ein Schild „Vorsicht Hochspannung!“ drangeschraubt. Fütterung. Uniform gekleidete KrimiAutorinnen zwängen die Brocken durch die Gitterengen. Portionsgerecht zerteilt, vorgekaut, ja, sogar vorverdaut. Gammelkrimis, zur Düpierung der Geschmacksnerven in einer Tunke aus „Gesellschaftskritik“ mariniert. Nein, nicht artgerecht: keine freie Wildbahn, kein Belauern der Beute, kein Triumph bei Jagderfolg. Nichts als fressen, nichts als rumtigern, kuschelige Objekte mit verfilztem Fell.

Und das Schönste: Sie sind alle freiwillig hier. Warten auf die nächste Fütterung, Masse statt Klasse bitte, Spannung statt Wirklichkeit, klischeesatte Rituale statt mühsamer Nahrungssuche im Revier der scheuen Bücher. 751 Seiten Stieg Larsson. 751 Seiten „Verdammnis“.
Und wieder das neue Dreamteam schwedischer Krimikunst: Der Journalist Mikael Blomkvist und die höchst sonderbare Lisbeth Salander. Blomkvist arbeitet für „Millennium“, eine prima Zeitschrift mit lauter prima MitarbeiterInnen, jetzt wollen sie dem Mädchenhandel an den Kragen, aber ach, der verantwortliche Autor samt liebenswerter Freundin stirbt, auch Salanders gesetzlicher und superböser Vormund stirbt, Salanders Fingerabdrücke auf der Waffe, die Hatz kann beginnen.

Schöne Story. An der uns zunächst einmal das Volumen irriert, 751 Seiten, wie gesagt. Schon Larssons Erstling „Verblendung“ entfaltete sich in diesen Dimensionen, hatte aber eine Geschichte, die es akzeptabel machte, jedes Detail zu drehen, zu wenden. „Verdammnis“ hingegen beschert uns Redundanz als Formprinzip eines Autors, dem Form, gar Sprache eines Romans völlig egal sind. Man möchte wetten, Larsson habe sich nicht für fünf Cent Gedanken über die Sprache, die Dramaturgie gemacht, wozu auch. Den Tierchen im Zoo ist es schnuppe, welche Form das Fresschen hat, das man ihnen reicht. Es macht ihnen auch nichts aus, jede Unwichtigkeit nicht nur xmal vorgesetzt zu bekommen, sondern auch noch explizit erläutert. Als sich etwa Lisbeth Salander häuslich neu einrichtet und dazu ein IKEA-Geschäft aufsucht, serviert Larsson gleich beträchtliche Teile des IKEA-Katalogs, eine Espressomaschine ist selbstredend nicht einfach eine Espressomaschine, sie ist „eine Jura Impressa X7 mit integriertem Milchkühler (…) ein Profigerät für den Heimgebrauch, das knapp 70000 Kronen kostete“, man arbeitet auch nicht an stinknormalen Computern, ein „Apple PowerBook (G4 Titanium, mit 17-Zoll-Bildschirm)“ muss es schon sein.

Irgendwann wird das sehr komisch. „Bublanski ging, je nach Zeit und Wetter, gern spazieren.“ In Ordnung. Aber weiß der durchschnittliche Käfigleser, was das ist? Spazieren? Wohl nicht. Also fügt Larsson schnell noch eine Erläuterung hinzu: „Damit verschaffte er sich die nötige Bewegung.“ Inkonsequent, dass ein Satz wie „Er aktivierte seine Beinmuskulatur sowohl links als auch rechts und setzte einen Fuß vor den anderen“ fehlt.

Aber das alles hat Methode. Es schläfert ein, es versetzt die werte Leserschaft in einen pseudobuddhistischen Zustand der geistigen Leere. Und die ist dringend vonnöten, um die Handlung zu genießen.

Wie schon in „Verblendung“ steht Lisbeth Salander im Mittelpunkt der Story. Ganz Schweden macht auf sie, die angebliche Psychotin, Jagd. Aber Lisbeth ist nicht nur Autistin mit Asperger-Syndrom, sie ist auch bärenstark, superintelligent, gegen sie haben selbst böse und schmerzunempfindliche „blonde Riesen“ oder beinharte Rocker keine Chance, und am Ende gelingt es ihr sogar, von den Toten aufzuerstehen, eine der markerschütterndsten Szenen eines Buches, bei dessen fortschreitender Lektüre man froh ist, nicht mehr ganz so viele Haare, die sich eigentlich permanent sträuben müssten, auf dem Kopf zu haben.

Nun war Larsson (er starb 2004 fünfzigjährig) Schwede. Er hat also Schwedenkrimis geschrieben, und wahrscheinlich existiert ein geheimes Handbuch „Bausteine des Schwedenkrimis, wie ihn die deutschen LeserInnen in Käfighaltung lieben“, und da steht, gleich am Anfang: „Wiederhole ständig und völlig unangebracht, dass Schwedens Polizei korrupt, faschistisch und frauenfeindlich ist!“. Das tut Larsson. Aber so furchtbar aufgesetzt, dass es ihm irgendwann selbst zu blöd ist und er den Kasus in Wohlgefallen auflöst (wie man diese Thematik durchaus erhellend abhandeln kann, lese man bitte bei Leif GW Persson nach).

Überhaupt: Alles muss sich in Wohlgefallen auflösen. Das verlangt der Kuscheltiger beim Verzehr seiner Spannungsbrocken. Das ja durchaus interessante Thema der überbürokratisierten und erdrückenden Fürsorge, die „Wohlfahrtsstaaten“ ihren BewohnerInnen angedeihen lassen, schimmert ebenso durch wie die Fragwürdigkeit gesetzlicher Regelung gegen Prostitution, wie sie Schweden eingeführt hat. Aber Hilfe! Das wäre ja schon fast freie Wildbahn! Das geht nicht! Wirklichkeit, Ansätze selbstständigen Denkens beim Konsumenten! Also wird alles zur Tat des abgrundtief Bösen (auf die Stirn tätowiert: Ich bin abgrundtief böse!), nicht das System ist schuld, sondern die Leute, die es missbrauchen, und die bringt Lisbeth zusammen mit dem extrem unbedarften und holzschnittartigen Mikael sowie einer Reihe sonstiger Gutmenschen selbstredend zur Strecke, auf dass wieder Ruhe im Karton respektive Käfig herrsche. Sjöwall / Wahlöö, welche zurückgebliebenen Kinder habt ihr da unfreiwillig gezeugt!

Nein, spannend ist das nicht. Vorhersehbar, eine Liste mit Thrillerelementen, die abgehakt wird, friss oder stirb, kotzen müssen nur die, die dir dabei zusehen.

Auf der Coverrückseite lesen wir ein Zitat aus „Kristiansstadsbladet“: „Stieg Larsson ist der bedeutendste Krimiautor unserer Zeit.“ Angebrachter wäre ein Aufkleber: „Vorsicht. Dieser Kriminalroman beleidigt ihre Intelligenz.“ Aber das wäre wohl ein weiteres Verkaufsargument, das den KäfigleserInnen nach der Konsultation eines Fremdwörterbuches (Intelligenz = Grad der Befähigung, selbst zu denken) auf gut Pavlovisch den Mund wässrig machen würde.

P.S.: Aber das Coverbild ist großartig! Eine vor Schreck versteinerte Dame, die auf der Couch sanft entschlummert ist.

Stieg Larsson: Verdammnis. 
Heyne 2007 (Original: „Flickan som lekte med elden“, deutsch von Wiebke Kuhn).
751 Seiten. 22,90 €

14 Gedanken zu „Stieg Larsson: Verdammnis“

  1. Pflichterfüllung heißt das Zauberwort. Ich opfere mich auf für meine LeserInnen und aktiviere die Sekundärtugenden. Disziplin. Ausdauer. Aufgeben der vornehmen Zurückhaltung. Wann lernt ihr das endlich zu schätzen?!

    bye
    dpr

  2. Gleich nachher. Nein, im Ernst. Ich schätze das schon lange. Gerade weil ich das nicht kann. 50 Seiten Mist und ich gebe entervt auf. Spätestens.

    Our hero!

  3. also ich weiß auch nicht … da geht doch zu viel lebenszeit verloren. ich lese nur bücher bis zu ende, die mir gefallen. andererseits, natürlich. wo käme die kritik hin, wenn die kritiker nur bücher läsen, die ihnen gefielen. andererseits: die ökonomie! 750 seiten. dpr ist ein TIER …

  4. Liebe junge Freunde, glaubt einem alten Mann: Vom Schlechten lernen wir oft mehr als vom Guten. Jedenfalls lernen wir viel über die Verhältnisse, die es ermöglichen, dass grober Unfug hochgelobt in den Bestenlisten und Feuilletons erscheint. Über die Menschen, die so etwas lesen und gierig abnicken. Über den Zustand unserer Kultur. Die mag ja schon immer vom Mittelmaß dominiert worden sein, zur Zeit indes regiert Gevatter Hirntod allerorten mit harter Hand. Ist funktionaler Analphabetismus die herrschende Religion. Stammeln Literatur. Sich spreizen artistische Bewegung. Aber wartet nur, es gibt einen Gott! Er wird sie alle strafen!

    bye
    dpr

  5. Du hast ja so recht. Aber das wusste ich schon. Im neuen Krimijahrbuch (das ich hier nachdrücklichst zum Kauf empfehle) habe ich auch über so einen…

    Es gibt einen Gott, das ist wahr. Ich hoffe nur, du strafst mich nicht auch.

  6. @Georg: Nein, mein Sohn, sei ganz beruhigt. Die kleinen Sünder lass ich laufen.
    @Anobella: Deine Eisbeutelfürsorge rührt mich. Aber könntest du damit aufhören, solange es draußen morgens arschkalt ist?

    bye
    dpr

  7. d a s fiel mir gestern auch auf, als ich 150 km weiter südlich war. irgendwie ist es bei euch kälter. ihr seid mindestens 10 tage im frühling zurück. bei u n s am rhein sind die bäume schon dicht BELAUBT und die blüte vorbei.

    *niest

  8. Danke.

    Nachdem ich mich durch „Verblendung“ – einen anderen Roman von Larrson – gequält habe, den ich aufgrund von ausschließlich sehr guten Kritiken bei amazon und diversen Krimiseiten gekauft habe, war ich bis ich diese Seite hier gefunden habe, nahe dran an meinem Verstand zu zweifeln, da ich nun 3 Bücher hintereinander gelesen habe, welche so was von schlecht waren, von anderen Lesern aber dennoch als sehr gut eingestuft wurden.

    Es ist immer wieder schön, sich nicht alleine zu wissen.

  9. Hey,
    das ist ja echt lustig, was Ihr hier so schreibt.
    Danke dpr für Deine Kritik. Da sie sie gut zu lesen ist, glaub ich Dir aufs Wort und werde mir keinen Larson-Krimi kaufen. Schön formuliert und gut zu lesen, echt.
    Danke
    Stephan

  10. Ja, Stephan, wir sind schon ein lustiger Haufen! Das liegt vor allem an Paragraph 45c in unseren Arbeitsverträgen: „Rezensionen dürfen nur im Zustand angewandten Drogenmissbrauchs verfasst werden!“ Und wir sind natürlich vertragstreu…

    bye
    dpr

  11. Also auch wenn ich die Kritik nachvollziehen kann, ich habe den ersten Larrson sehr gerne und den zweiten auch gerne gelesen. So schrecklich wie in der Kritik – gleichwohl unterhaltsam zu lesen – scheint er mir nicht zu sein. Aber ich lese ja auch gelegentlich mal Fantasy und drücke schon mal ein Auge zu wenn jemand ungerechtfertigt mit übermenschlichen Kräften und Wolverine artiger Zähigkeit ausgestattet ist. Ich find so was ab und an lustig. Aber jetzt werde ich erst mal weiter stöbern und schaun was Dir besser gefallen hat um da mal rein zulesen.
    hau weiter in die Tasten.
    Grüße
    Roy

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert