Historisches aus der Zukunft

Von der Römer- bis in die Nach-Nazizeit: Dass auch 2008 der sogenannte „historische Krimi“ boomen wird, gehört zu den narrensichersten Prognosen für das noch junge Jahr. Was ist das aber, dieses „historisch“? Eine vergangene, Geschichte gewordene Zeit, der sich Autorin / Autor aus der durch Faktenlage abgesicherten Position gnädigen Spätgeborenseins annimmt. Mit den bekannten fatalen Folgen. Eine Epoche besteht nicht nur aus dem, was die Archive davon bewahrt haben, sie verlangt eine gewisse Empathie, also die Fähigkeit der Schreiber, sich in die Gedankengänge des handelnden Personals hinein zu versetzen. Und, ganz wichtig: Das Schreiben „historischer Krimis“ ist ohne schriftstellerische Kompetenz ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Aber das ist ein allgemeines Phänomen.

Betrachten wir uns das Wort „historisch“ etwas genauer. Es besagt einfach nur, sich einer Zeit zu widmen, die „geschichtlich“ geworden ist, oder noch präziser: zeitgeschichtlich. Sie ist vergangen, sie ist von Historikern mehr oder weniger „aufgearbeitet“ worden, mithin Material. Letzteres ist nur deshalb von Bedeutung, weil ohne dieses Material kein vernünftiger Mensch sich an das Verfassen von, sagen wir, „Römerkrimis“ machen würde. Ignorieren wir das also, bleibt von „historisch“ nichts weiter übrig als das Zeitgeschichtliche. So betrachtet, ist jeder Kriminalroman, der sich mit gesellschaftlichen und/oder politischen Wirklichkeiten beschäftigt, historisch.

1956 veröffentlichte Arno Schmidt „Das Steinerne Herz“, von dem es im Untertitel heißt, es sei ein „historischer Roman aus dem Jahr 1954“. Die Differenz von zwei Jahren erklärt sich schlicht aus dem Umstand, dass Schmidt zunächst keinen Verleger für sein Werk hatte finden können, es also möglich gewesen wäre, diesen Roman ÜBER das Jahr 1954 bereits 1954 veröffentlicht zu sehen. Es ist, unter anderem!, ein Roman über das „Zeitgeschichtliche“, durchaus mit Elementen des Krimis angereichert (und es wäre eine Untersuchung wert, welche Rolle die Auguste-Dupin-Erzählungen Edgar Poes dabei spielen), aber natürlich weder „Krimi“ noch mehr als das. Der Autor jedenfalls braucht nicht in Archive hinab zu steigen, um über das „historische Jahr 1954“ zu recherchieren. Er weiß, wovon er spricht, er braucht nur zu schauen.

Auch 2007 erschien eine Reihe „historischer Krimis“, deren Urheber aus eigenem Erleben schöpfen konnten und allenfalls zur Absicherung von Erinnertem Archive frequentieren mussten. Nennen wir zwei aus der Pfalz, Peter Birons „Bella Marie“ und Lilo Beils „Gottes Mühlen“.

Birons Buch ist recht eigentlich kein Roman, sondern der als Roman notverkleidete Bericht über einen aufsehenerregenden „authentischen“ Mordfall im Speyer der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ein Mann, von Beruf „Kastrierer“, erschlägt seine leichtlebige Frau. Lilo Beils „Gottes Mühlen“ mahlen im Jahr 1957 in der Südpfalz, es geht um den Mord an einem kleinen Mädchen. Beide Texte bemühen sich natürlich, so viel „Zeitgeschichte“ wie möglich zu transportieren, und auf den ersten Blick mögen die Sterne gut stehen, denn Autor / Autorin haben das, was sie da beschreiben, selbst erlebt, sie waren Kinder und konnten jenes Zeitkolorit bewahren.

Dass beide Texte indes scheitern, hat den simpelsten und am weitesten verbreiteten Grund: schriftstellerisches Unvermögen. Biron zimmert ein tannödes Romankonstrukt, das beim geringsten kritischen Gegenwind in sich zusammenfällt; Beil, obwohl sie deutlich besser schreiben kann, verkleistert ihren Roman mit reichlich Dozier- und Belehrmasse, vertraut dem, was sie zeigen soll, keinen Zentimeter weit und ist – als Lehrerin! – ganz offenbar bestrebt, „Stoff“ zu vermitteln.

Immerhin: Der Rückgriff aus das sich mit der eigenen Biografie überschneidende „Historische“ ist EIN Weg, den hohen Ansprüchen des historischen Kriminalromans gerecht zu werden. Man muss nur schreiben können.

Halten wir fest: Auch die unmittelbare Gegenwart respektive die Vergangenheit, die einst unmittelbare Gegenwart des Autors, der Autorin war, kann den Zeitrahmen „historischer Kriminalromane“ abstecken. Gehen wir jetzt einen Schritt weiter.

2007 veröffentlichte Richard A. Clarke mit →„Scorpion’s Gate“ einen Kriminalroman aus der nahen Zukunft. Formal nicht zu beanstanden. Der Autor stellt sich quasi ein wenig außerhalb der Aktualität, die er dann kritisch betrachtet und logisch weiterschreibt. Dass auch Clarke scheitert, liegt, man ahnt es bereits, ebenfalls an seinen sehr begrenzten kriminalschriftstellerischen Möglichkeiten. Doch die IDEE ist gut, sie hat – im Wortsinn – Zukunft.

Das Vorhaben eines, sagen wir, „historischen Krimis aus dem Jahr 2039“ würde die reizvolle Konstellation eines Romans über die Genregrenzen hinaus ergeben, die Verschwisterung von Krimi und Science Fiction. Das wäre nicht neu, müsste aber durchaus neu überdacht werden. Auf jeden Fall wäre die Basis des Historischen gewahrt, das Ganze eine Variation, eine Synthese gar von „unmittelbarer Gegenwart“ und Rekonstruktion einer vergangenen Zeit, besagter Gegenwart nämlich. Oder anders: Ein Kriminalroman aus der Gegenwart mit den Mitteln der distanzierten Analyse verfertigt.

Auch das hat wiederum seine Tücken. Wer die Gegenwart als „historisch“ behandelt, muss den Standort des Autors stets im Auge behandeln. So wie ein „Römerkrimi“ immer eine Menge über die historische Zeit erzählt, der Verfasserin / Verfasser angehört (schlechtesten Falls, weil er / sie Denk- und Handlungsweisen der Gegenwart unbekümmert über die Vergangenheit stülpt; bestenfalls, weil er / sie genau das bezweckt und aus dem „Römerkrimi“ einen „Gegenwartskrimi“ macht), darf auch ein Zukunftskrimi den fiktiven historischen Standort – hier: das Jahr 2039 – nicht außer acht lassen. Die Zukunft als logische Fortschreibung der Gegenwart erforderte von Autorin / Autor intellektuelle Mobilität. Sie / er schreibt alternierend von zwei Positionen aus: Gegenwart und Zukunft.

Aber gut, gehen wir an dieser Stelle nicht weiter in die Details. Sondern belassen es bei der Feststellung, dass ein „historischer Kriminalroman aus dem Jahr 2039“ ebenso wenig ein Widerspruch in sich sein müsste wie ein „historischer Kriminalroman aus dem Hier und Jetzt“. Im Gegensatz zur handelsüblichen Variante – Stichwort, noch einmal: „Römerkrimi“ – sähe er sich allerdings mit einem gewaltigen Hindernis konfrontiert: der nur begrenzten, wenn denn überhaupt vorhandenen Kompetenz derjenigen, die darüber entscheiden, ob ein solcher historischer Kriminalroman aus der Zukunft veröffentlicht wird oder nicht. Krimi? Aber immer! Das verkauft sich! Science Fiction? Hilfe! Das liegt wie Blei in den Regalen der Buchhandlungen, wenn es dort überhaupt noch liegt.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es heutzutage beinahe unmöglich ist, einen solchen genreübergreifenden Roman unterzubringen, selbst dann nicht, wenn es sich recht eigentlich nicht um „Science Fiction“ handelt, sondern nur die Erzählzeit in die Zukunft verlegt werden musste, um ein bestimmtes Setting zu erreichen. Als Optimist jedoch vertraue ich auf die zwar langsame, doch irgendwann zu konstatierende Veränderung dieser Situation. Vielleicht schon nächstes Jahr? Hm. Auf jeden Fall wird es Zeit, endlich mit dem „historischen Kriminalroman aus dem Jahr 2039“ zu beginnen…

3 Gedanken zu „Historisches aus der Zukunft“

  1. Historische Krimis. Interessantes Thema.

    Von Robert Ferrigno gibt es die „The Assassin Trilogy“, deren erster Teil letztes Jahr veröffentlicht wurde und im Jahr 2015 spielt. New York und DC sind nach einem Atomanschlag ausgelöscht und auf dem Boden der USA gibt es einen islamischen und einen christlichen Nachfolgerstaat. Der zweite Teil spielt im Jahr 2043 und erscheint demnächst.

    Beste Grüße

    bernd

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