Kritikerstammtisch: Metakritik

Und was lernen wir jetzt daraus? Sechs Menschen schreiben über ein Buch und generieren sechs verschiedene Meinungen. Ist das Kritisieren von Büchern also wirklich jene Geschmackssache, die im Grunde jede Kritik obsolet macht? Keine Objektivität nirgends?

Dass Robert Littells „Die Söhne Abrahams“ am Beginn der Reihe „Kritikerstammtisch“ steht, erweist sich als Glücksfall. Denn fünf der sechs Besprechungen sind in ihrem Credo so himmelweit nicht von einander entfernt. Und es gibt eine davon völlig abweichende Meinung, einen Verriss, der jedoch, schaut man genauer hin, auch nichts anderes aussagt als die fünf „Lobe mit Vorbehalt“ – nur das Fazit ist ein anderes, weil die Wertung der Schwachpunkte eben eine andere ist.

Sehr schön lässt sich das an dem Punkt illustrieren, in dem sich ausnahmslos alle RezensentInnen einig sind. Im Zentrum von „Die Söhne Abrahams“ steht das Verhältnis von Rabbi Apfulbaum und seinem palästinensischen Entführer. Die Entwicklung dieser Beziehung enthält eine Botschaft, das Ganze ist also, wie Georg mit der ganzen Souveränität des Literaturwissenschaftlers richtig erkannt hat, „eine Parabel“, jedoch „eine ziemlich flachbrüstige“. Auch Thomas hält diesen Kern für „alles andere als originell [… und] doch sehr gewollt“.

Völlig anderer Meinung ist Henny. Sie findet, „dass der Autor alles sehr fein komponiert hatte, bis hin zu den äußerlich gezeigten Reaktionen, die die inneren Zerrissenheiten widerspiegeln. Großartig.“ Ein wenig dazwischen die Einschätzung von Claus. Wohl würdigt er die Funktion dieses Kern )„(…) treibt die Handlung durch die zunehmende Verengung auf das Schicksal von Abu Bakr und Apfulbaum gewaltig voran (…)), sieht jedoch in der Ausführung „diese(r) aufklärerische(n) Absicht auch die zentrale Schwäche des Romans“. Auch Bernd bemängelt die Ausführung, denn „die Parallele zwischen den beiden Gegenspielern ist schon fast zu offensichtlich“. Dpr schließlich benutzt diesen auch für ihn nicht sehr originellen Kern, um seine Aussage auf die anderen Ebenen der Handlung zu übertragen.

Hinsichtlich der Gewichtung dieses Teilaspekts für das Gesamturteil zeigen sich nun eklatante Unterschiede. Georg etwa findet das Buch „dort, wo die Thrillerelemente überwiegen“, durchaus gelungen, weist dem aber „eine Nebenrolle im Roman“ zu und sieht daher keine Veranlassung, das Negativurteil abzumildern. Thomas, der die Schwächen der Parabel ebenfalls herausgearbeitet hat, relativiert dieses Minus durch das Plus „der Schreibe von Littell“, von dem er auch „einen Bericht über die Jahreshauptversammlung des örtlichen Kaninchenzüchtervereins lesen“ würde. Dpr hingegen kritisiert gerade diese „Schreibe“, ohne dass dies das grundsätzlich positive Urteil zu gefährden vermag. Auch Bernd erkennt eine für das wohlwollende Gesamturteil letztlich bedeutungslose sprachliche Schwäche, und Claus lobt, dass Littell „in wenigen, präzisen Sätzen seziert“, was nun auch ein Lob für die Sprache ist.

Man erkennt hier sehr schön, wie die RezensentInnen Littells Roman in ihr eigenes („subjektives“) kritisches Koordinatensystem stellen, das als solches durchaus objektiv, weil tatsächlich am Gegenstand ausgerichtet ist. Will heißen: Wir erkennen sofort, welches Gewicht die KritikerInnen auf einzelne Elemente legen, ob dieses ein absolutes ist, das also von anderen nicht mehr aufgewogen werden kann, oder eben nur eines unter mehreren. Ein nichtobjektives Kriterium wäre z.B., Robert Littells Buch nur deshalb abzulehnen, weil man sich über das seines Sohnes Jonathan geärgert hat (wobei man diesen Umstand durchaus, wie es Georg getan hat, polemisch einarbeiten darf – es darf aber nicht Prämisse einer Besprechung sein). So betrachtet, ist der Unterschied, ob man ein Buch wohlwollend durchwinkt oder gnadenlos verreißt, gar nicht einmal gewaltig, sondern häufig lediglich eine Frage der Akzentuierung.

Doch dies nur als Beispiel. Weitere interessante Beobachtungen ließen sich aus der Analyse der „Plastizität und Authentizität“ von Littells Geschichte gewinnen, für die einen gegeben, für andere wiederum nicht, beziehungsweise nicht von Bedeutung, da gerade diese Plastizität mit ihren Identifikationsfiguren die Wirkung des Textes abschwächen würde. Auch die Erwartungshaltung des Kritikers wird angesprochen (jedenfalls bei Thomas und dpr, die „Die Söhne Abrahams“ zu anderen Werken Littells oder thematisch verwandten Büchern referenzieren; Henny als Nichtthrillerexpertin berichtet dagegen von allgemeinen Genreerwartungen, die sich nicht erfüllten).

Der Kritikerstammtisch zu Littells Buch macht sehr schön klar, was „Rezensieren“ bedeutet. Man schickt den Text durch ein Werte- und Bewertungssystem, das selbst transparent sein sollte, um jene Schnittstellen zu offenbaren, an die die Werte- und Bewertungssysteme der LeserInnen von Rezensionen andocken können – oder eben nicht. So betrachtet ist die These, ein jeder Leser habe einen „Kritiker seines Vertrauens“, stimmig und sinnvoll. Andererseits kann es passieren, dass die Systeme der LeserInnen durch die Systeme der RezensentInnen modifiziert werden, mich also jemand davon überzeugt, bisher „falsch“ gelesen zu haben. Und andererseits: Niemand der rezensiert sollte glauben, sein / ihr System sei absolut und bedürfe keiner Veränderung. Wer seine Tätigkeit ernst nimmt, wartet nur darauf, dass ihm ein Text die ganze schöne kritische Ordnung kaputt macht. Das ist dann ein Feiertag. Damit wären wir wieder mitten in der Literatur selbst, deren Charme ja genau darin liegen sollte, solche Erweiterungen meines Horizonts respektive Verschiebungen meines Standpunkts zu bewerkstelligen.

16 Gedanken zu „Kritikerstammtisch: Metakritik“

  1. War eine gute Idee von mir, das mit dem Stammtisch, gell? Finde ich jetzt auch in der Ausführung und in deiner schönen Zusammenfassung sehr gelungen. So geballt gegenübergestellt hat man das ja sonst nie. Das sollten wir bei Gelegenheit noch einmal machen. Und die Krimi-Besenliste sollte sich mal ein Beispiel nehmen.

  2. Genau. His Schorschness hat hier eine wirklich gute Idee gehabt. Und wir machen das nochmal. Ihr könnt ja schon ein paar Titel vorschlagen.

    bye
    dpr

  3. Mann, der Georg und seine Trackbacks !

    Wenn ein zweiter Tisch, dann ein ganz anderes Buch. Irgendwie was … „Erdiges“. Der „neue“ Lee Child oder Allan Guthries wären gut gewesen.

    ? Stuart MacBride ? Den letzten Deitmer (über das KJB aufmerksam geworden) kennt sicher der ein oder andere schon ?

  4. Ja, gell, der Schorsch, der kanns! Sogar doppelt! Wow!
    Also Stammtisch. Ich würde diesmal was Deutsches präferieren. Den Child lese ich gerade,der ist natürlich Klasse, wie nicht anders zu erwarten. Wenn was Nichtdeutsches, dann im Augenblick das sehr INTRIKATE „Blindband“ von Gilbert Adair. Wird sogar Georg gefallen. „Mädchenmörder“ von La Dorn wäre schön kontrovers geworden, aber das tu ich mir nicht mehr an, außerdem hat gerade unser Azubi Jochen das Buch, weil die doch jetzt in der Berufsschule das prüfungsrelevante Fach Sexismus dazubekommen haben. Morgen bespreche ich von Roger Graf „Die Frau im Fenster“, kommt also auch nicht mehr in Frage, wäre aber auch schön gewesen. Macht mal weitere Vorschläge… und wer „blind“ mitmachen möchte, kann sich natürlich ab sofort melden…

    bye
    dpr

  5. „Blindband“ ist uralt (nur eine Neuauflage bei Beck) und damals von mir nach den ersten Seiten als langweilig zur Seite gelegt worden. Zweiter Versuch? Warum nicht.

  6. Ja, nicht neu, aber wer kennts noch? LANGWEILIG? Ich lese richtig? LANGWEILIG? Bist du wirklich GEORG oder nur ein Trittbrettfahrer, der hier unter dem guten Namen eines unbescholtenen Karlsruher Literaturwissenschaftlers sein böses Spiel treibt? LANGWEILIG? *bricht zusammen **wirft die Arme hoch ***Geldmacherin, hilf!

    bye
    dpr

  7. Ich finde den Kritiker-Stammtisch ebenfalls sehr gelungen.
    Bemerkenswert fand ich z.B., dass die Kritiken hinsichtlich der „zu würdigenden“ Teilaspekte eine bemerkenswert (im Sinne von hervorzuheben) große Schnittmenge aufweisen und erst die individuelle Bewertung derselben die unterschiedlichen Urteile bedingen. Interessant auch die im direkten Vergleich offen zu Tage tretende Werte- und Bewertungssystem des/r einzelnen. Dieses macht IMO deutlich, das Kritiken nicht einfach geschmäcklerisch, sondern „überprüfbar“ sind. Dabei weiß ich nicht, inwieweit das Wissen um die anderen Rezensenten , den/die einzelne/n in ihrer/seiner Kritik diszipliniert hat.

    @ annobella: Ich bin ein wenig überrascht, dass meine Rezension den Eindruck erweckt, ich wäre von Littell begeistert gewesen. Das ist eigentlich nicht der Fall. Ich kannte Littell vorher nicht und hatte mir aufgrund der Plazierung in der Bestenliste mehr versprochen. So hat mich die Figurenzeichnung ebensowenig wie die Thrillerebene überzeugt. Man schaue sich einmal exemplarisch die Beschreibung der Geiselbefreiung an und überlege, was ein Harlan Coben, Thomas Perry oder Michael Connelly daraus gemacht hätte.

  8. Das mit dem Quasi-Wettbewerbsfaktor beim Stammtisch ist auch für mich noch eine große Unbekannte,lieber Claus. Als stünden die anderen Fünf hinter einem und würden über die Schulter auf den Monitor gucken.
    Ansonsten aber: Allen Beteiligten herzlichen Dank – und wer beim nächsten Kritikerstammtisch dabei sein will, kann sich ja mal melden… und auch was vorschlagen. Aber nicht dieses Allgäuzeug, bitte! Piper beliefert mich eh nicht mit Leseexemplaren, also gibt es diesen Verlag für mich gar nicht (mit einer Ausnahme…).

    bye
    dpr

  9. *blättert im Blog

    Lieber Claus,

    „begeistert“ habe ich nicht geschrieben. Doch viel Lob, nicht unkritisch. Jedoch am anderen Ende der Skala von, sagen wir, Georg.

  10. Hurra, wir habens geschafft! Auf dem noch aus alten französischen Beständen aktivierten Blog des Fernsehsenders Arte weist Tobias Gohlis auf den Kritikerstammtisch hin. →Hier. Und nennt uns „Elche“. Naja, bei des Blogmeisters bekannter Vorliebe für Schwedenkrimis keine Überraschung.

    bye
    dpr

  11. Ja, Elche sind schöne Tiere. Bestimmt denkt der Herr Gohlis grad über einen Tierkrimi nach und die sind ihm reingerutscht.

    Aber warum sagt er: „Selbst sind die Blogger“?

    Braucht man normalerweise Adjutanten für eine Rezension. Oder lässt man schreiben? Warum ist das erwähnenswert, wenn man selbst schreibt?

  12. Nein, liebe Frau Krimi, das ist alles viel komplizierter. Diese Elche beziehen sich natürlich auf den Spruch „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche“. Ja, und jetzt wirds sogar mir schon zu kompliziert. Denn wieso waren früher die Blogger Rezensenten und sind jetzt ihre schärfsten Kritiker? Oder waren die Blogger die schärfsten Kritiker der Krimiwelt-Bestenliste und machen jetzt selber eine? Nö, gell? Oder hieß ich früher Arne Dahl und hab Schwedenkrimis geschrieben und nenne mich jetzt dpr und mag keine Schwedenkrimis mehr? Hm… das ist fast so kryptisch wie das ARTE-Fernsehprogramm.

    bye
    dpr

  13. Mit den Elchen meint er die, die beim Elchtest vorne laufen. Oder renne ich jetzt offene Türen ein?
    Bei einem guten Buch bin ich wieder dabei.(Vorliebe: Aus deutschen Landen und kein Regio bitte)

    Grüße

    Henny

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