Rasch in ein vorläufiges Fixierbad getauchte Gedanken

Was muss sich dort abgespielt haben … welcher Schriftsteller übernimmt einen Versuch der Darstellung ?(Bernd)

je länger ich mir das anschaue, um so weniger kann ich glauben, daß die Literatur (oder die Kriminalliteratur) das richtige Medium für dergleichen ist. (JL)

Hier geht’s →ums Eingemachte. Vierundzwanzig Jahre lang hält ein Mann in Österreich seine Tochter im Keller gefangen. Er zeugt mit ihr Kinder, von denen einige ebenfalls in diesem Keller verbleiben müssen, andere von „Oma und Opa“ großgezogen werden. Niemand will etwas davon gewusst haben: die Oma nicht, die Nachbarn nicht, die Behörden nicht. Das ist der Stoff, aus dem man starke Romane schreibt (oder, um Arno Schmidt zu paraphrasieren, starkgebärdige), Gewichtsklasse griechische Tragödie. Aber zunächst ist es nun einmal Stoff; Stoff wie jeder andere, Rohstoff.

Ich muss gestehen, dass mir, als dieser Fall am Wochenende bekannt wurde, erst einmal zwei recht zynische Gedanken eingefallen sind. Der erste bemitleidete Thea Dorn, die in „Mädchenmörder“ das Verhältnis Täter / Opfer am Beispiel der Entführung einer Gymnasiastin durch einen „serial killer“ thematisiert und damit all die Spekulationen des Schicksals von Natascha Kampusch genregerecht inszeniert hat. Jetzt holt sie „die Wirklichkeit“ ein. Der neue „Fall“ ist noch ungeheuerlicher, noch besserer Stoff – wenn (und das war der zweite zynische Gedanke) wenigstens die inzestiöse gezeugte neunzehnjährige Tochter eine halbwegs passable mediale Erscheinung abgibt, also hübsch, adrett ist und (jetzt steigere ich den Zynismus noch ein wenig) vielleicht auch von ihrem Großvater / Vater vergewaltigt wurde.

Sich solche Gedanken um einen „Stoff“ zu machen, ist aber genaugenommen gar nicht zynisch. Es sind die ersten Verarbeitungsversuche einer Darstellung und sie führen natürlich voll in die Richtung „Krimi“. Ich entnehme der Wirklichkeit ein paar Fitzelchen Fakta und züchte meine Literatur aus ihnen. Wirklichkeit, wie sie unter Laborbedingungen entsteht. Etwas in die Petrischale legen, manipulieren, warten, was sich daraus entwickelt.

Bernds spontanes Verlangen nach wenigstens dem Versuch einer Darstellung ist verständlich, gibt er doch das wieder, was wir von Literatur erwarten: Sie soll uns das Unfassbare fassbar machen. JLs Replik misstraut dieser Kraft des Wortes – nicht generell, wage ich zu vermuten, aber doch dort, wo mit „Darstellung“ „adäquate Abbildung“ intendiert wird. Und tatsächlich scheint es nicht möglich, qua „Abbildung“ Fassbarkeit zu erwarten. Erstens, weil es eine Abbildung von Wirklichkeit im fotografischen Sinne ja nicht gibt – weder in der Literatur noch anderswo (auch nicht, nebenbei, in der Fotografie selbst, die nicht nur ein Ausschnitt ist, der aus dem Kontext gelöst wird, sondern obendrein einen Zustand fixiert, den es so niemals „in Wirklichkeit“ gibt). Zweitens ist das, was wir literarische Abbildung nennen könnten, schon im Moment des ersten Schritts Inszenierung, Manipulation eines Stoffes in Richtung seiner Fassbarkeit, seiner Beherrschung.

Aber das ist jetzt schon zu theoretisch, ich will es praktischer zu erklären versuchen, gewissermaßen autobiografisch.

Wir haben uns hier, noch bevor uns die Nachricht aus Österreich zugetragen wurde, um „Spannung“ gestritten, um die Dramaturgie also, die einen (Krimi-)Stoff zu transportieren hat. Nun ist die Wirklichkeit selbst (ich nenne sie jetzt mal so; die LeserInnen wissen schon, dass Wirklichkeit etwas höchst Eigenes – und gar nicht Fassbares ist) alles andere als „spannend“, wenn man hinter ihr so etwas wie eine Dramaturgie mutmaßt. Anders: Wirklichkeit ist ein verdammt schlechter und langweiliger Krimi, und wir ertragen sie nur, weil wir sie beständig in einem „Versuch der Darstellung“ interpretieren, beherrschen wollen und,wenn schon keinen Krimi, so doch wenigstens eine soap opera aus ihr machen.

Kriminalliteratur nun ist ein solcher Versuch der Darstellung von Wirklichkeit – nein, schon falsch. Kriminalliteratur ist der Versuch, auf Wirklichkeit hinzuweisen, mit dem eigentlich unlauteren Mittel der Spannung. Wenngleich weit davon entfernt, erklären zu können, was Krimi eigentlich sei (es ist nämlich so, dass sich mit jeder Definition des Gegenstandes Krimi dieser weiter von einer Definierbarkeit entfernt), habe ich eine für mich (für viele andere nicht) plausible Arbeitshypothese entwickelt, in der „Krimi“ mit seiner Notwendigkeit, justitiable Verbrechen zu thematisieren, immer auf „die Wirklichkeit“ zurückweisen sollte, die durch nicht justitiable Verbrechen als Wirklichkeit überhaupt zusammengehalten wird (auch eine Inszenierung). Ein in diesem Sinne idealtypischer Krimi hätte also die Aufgabe, uns zu zeigen, dass justitiable Verbrechen als auf Spannung getrillte „Fälle“ zuvörderst die Funktion haben sollten, auf die durch Paragraphen des Strafgesetzbuches nicht fassbare, alltägliche und dabei Gesellschaft konstituierende Verbrechen hinzuweisen. Sie wären also dramatische Gestalt gewordene Unsichtbarkeit, denn der Clou nicht justitiabler Verbrechen besteht gerade darin, nicht als Verbrechen erkannt zu werden.
Als ich meinen Kriminalroman „Menschenfreunde“ fertig geschrieben hatte, bat mich der Herausgeber der Funny Crimes Reihe, Richard Betzenbichler, um einen kleinen Mehrwert für die hoffentlich zahlreiche Leserschaft, einen Aufsatz. Ich habe auf drei Seiten versucht, die oben genannte Hypothese ein wenig zu explizieren, weil sie auf „Menschenfreunde“ durchaus anwendbar ist – oder doch sein soll. Der kleine Aufsatz heißt „The true but not so funny crimes“ und wird hier in den nächsten Tagen / Wochen veröffentlicht werden.

Die Hypothese von den genregeeigneten Verbrechen (was nur ein anderes Wort ist für justitiabel), die uns die Verheerungen aufzeigen sollen, die durch als solche nicht erkannte Verbrechen im Alltag angerichtet werden, hat etwas mit einer anderen Hypothese zu tun, der nämlich, dass Kriminalliteratur genau so entstanden ist: als Versuch, das „Unspannende“ des Alltags via spannender Stoffbearbeitung aufzuzeigen. Es gibt sogar einen Roman, den ich – zufälligerweise gerade jetzt, ich sitze nämlich am Nachwort – als Prototyp dieser „Genrewerdung“ bezeichnen kann. Einen Roman, in dem genau das zu beobachten ist, wie nämlich aus dem verbrecherischen Alltag das krimitaugliche Verbrechen hervorgeht.

Zurück zum Ausgangspunkt, den Ereignissen in Österreich. Wir haben hier einen „Stoff“, der nicht fassbar ist, aber ein Gutes (ich werde schon wieder zynisch) hat, er ist nämlich justitiabel. Vergewaltigung, Inzest, Freiheitsberaubung – das IST geradezu Krimi, das braucht nicht mehr zu Krimi gemacht zu werden, sieht man einmal von den handwerklichen Dingen ab wie Spannungsaufbau, Figurenzeichnung etc. Hier wird Wirklichkeit nicht etwa zur Literatur – sie ist es eigentlich schon. Wozu also bräuchten wir hier die Literatur noch, was könnte sie bewirken? Eines jedenfalls nicht: etwas fassbar zu machen. Aber sie könnte den oben skizzierten Weg, von den justitiablen Verbrechen auf die nicht justitiablen, vom „unerhörten Ereignis“ auf das Alltägliche zu verweisen, gehen.

Ein Ansatz: Jemand sitzt 24 Jahre in einem Keller, wird missbraucht, gequält, ist also für jeden erkennbar Opfer. Das nämlich ist es, was das justitiable vom nicht justitiablen Verbrechen unterscheidet: Das letztere kennt nur Opfer, aber keine Täter, denn das Tätersein ist eine Definitionsfrage, eine Rechtsfrage, mithin auch das Privileg von Kriminalliteratur, die ja nicht zufälligerweise dem Täter weit mehr Aufmerksamkeit widmet als dem Opfer (es bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig, weil Opfer Bestandteil des Alltäglichen sind, Täter aber immer als Sonderfälle behandelt werden und Spannung erst konstituieren).

Man könnte sich also dem Opfer zuwenden und es ganz vom Täter trennen, was bedeuten würde: Man trennt es vom Genre, man stößt es ins Alltägliche. Konkret: Es wäre ein vielleicht fruchtbarer Ansatz, die vierundzwanzig Jahre des Martyriums mit dem krimitauglichen Verbrechen beginnen zu lassen (Vergewaltigung, Freiheitsberaubung etc.) und dann allmählich den Genre zu entreißen und die Geschichte in der schieren Alltäglichkeit eines gewöhnlichen, so gar nicht von Strafgesetzen fassbaren Lebens ausklingen zu lassen. Am Ende stünde also – die Normalität, eine ganz gewöhnliche Frau, der man das Leben gestohlen hat, die in ihrem Keller dahinvegetiert – und dieser Keller könnte alles mögliche sein, ein Einfamilienhaus, ein beschissener Job, eine Folge von Abläufen (heiraten, Kinder kriegen, arbeiten, fernsehen, Urlaub machen…).

Man würde damit einen Stoff aus seinem Stoffsein, seiner Eignung als Grundlage für sinn- und erklärungschaffende Literatur nehmen und auf seinen ursprünglichen Zustand zurückwerfen. Literatur könnte also erreichen, etwas der Literatur zu entziehen, indem man einem Stoff die Spannung geradezu aussaugt, so lange, bis er derart unspannend ist, dass er wiederum spannend wäre, nicht mehr krimispannend, aber doch so spannend, dass — Aber gut; ich schreibe das hier nur mal so hin. Wie das Ergebnis aussehen würde, ist eine ganz andere Frage, und wenn ich jetzt weiter darüber nachdenke, muss ich vielleicht feststellen, mich im Kreis zu drehen.

39 Gedanken zu „Rasch in ein vorläufiges Fixierbad getauchte Gedanken“

  1. ich habe nichts dagegen, dass man was aus dem stoff macht. aber nicht JETZT und nicht GLEICH. das hat das geschmäckle trittbrettfahrer. ich würde den teufel tun, das jetzt zu lesen. oder kennt ihr einen guten 11. september-roman? brrrr- mich schüttelt das.

  2. Zu spät. Jetzt hab ich schon angefangen.

    bye
    dpr
    *braucht Schotter
    **zufällig ein Verlag hier, dens interessiert?
    ***living in a material world
    ****keine moralischen Rücksichten mehr
    *****viva zynismo!

  3. Hallo dpr,

    dagegen!

    Ich kann Deiner „Nicht-Definition“ von Krimi durchaus etwas abgewinnen. Ich schreibe es einmal hier her, dass ich es vor Augen habe, denn es ist durchaus ein komplizierter Gedanke:

    „Ein in diesem Sinne idealtypischer Krimi hätte also die Aufgabe, uns zu zeigen, dass justitiable Verbrechen als auf Spannung getrillte „Fälle“ zuvörderst die Funktion haben sollten, auf die durch Paragraphen des Strafgesetzbuches nicht fassbare, alltägliche und dabei Gesellschaft konstituierende Verbrechen hinzuweisen.“

    Ich denke, ich habe von der anderen, der psychodynamischen Seite her einen durchaus ähnlichen Zugang: Ich denke, dass (frei zitiert nach E. Kneifl) Krimis für LeserInnen die Funktion haben, unseren Alltag mit all den kleinen Aggressionen, Grenzüberschreitungen und masochistischen Opferszenarien plakativ und überzeichnet darzustellen. Wenn wir Krimis lesen, dürfen wir in der Identifikation auch einmal TäterIn sein oder Opfer oder ErmittlerIn. Das kennen wir aus unserem Leben, wir kennen die Gefühle und dürfen sie im Lesen von Krimis endlich einmal sanktionsfrei erleben. Ich weiß nicht, ob das daselbe ist wie Dein Zugang, aber mir scheint doch, dass es eine Paralelle gibt: Krimis als Zuspitzung und Übersteigerung unserer Alltagsverbrechen.

    Jetzt gibt es aber eine ziemlich harte Grenze zwischen dem Genre Krimi mit dem justiziablen Verbrechen und unserer Alltagskriminalität: Nämlich die Fiktion. Was uns in der Fiktion hilft, unsere Affekte zu regulieren, würde uns im Alltag wahrscheinlich in ein Trauma stoßen. Und deshalb glaube ich auch, dass die Umkehr nicht funktioniert: Die Amstettner Familientragödie literarisch auf die banale Alltäglichkeit eines Ehekellers herabzuschreiben. Weil diese Familiengeschichte eben nicht Krimi ist, sondern Realität. Es ist keine Affektabfuhr, sondern Trauma. Wenn Krimi die Verdichtung alltäglicher Kleinkriminalitäten ist, fehlen diese hier. Der Alltag ist bereits die Verdichtung, die justiziable Kriminalität. Dies rückführen zu wollen auf den Alltag eines beschissenen Jobs oder den Keller des heiraten, Kinder-kriegens, … erscheint mir völlig unangemessen.

  4. Lieber dpr,

    die Literarisierung hat schon angefangen — und nicht erst mit Ihrem Text (ich kritisiere das nicht, denn es kann gar nicht anders sein): Allein der ‚Keller‘, der in allen Berichten vorkommt, sorgt für den Anschluß an, nun ja, unser kollektives Imaginäres und bewirkt Verarbeitung in litearischen Horizonten. Daher kommen meine Zweifel (ernsthaft: Zweifel, nicht Ablehnung). Reemtsma hat, wenn ich mich recht erinnere, versucht, den Schwierigkeiten in seiner hochartifiziellen Keller-Prosa zu entkommen, doch ich bin nie den Verdacht losgeworden, daß es dort auch mißlungen ist. Die Literatur ist, verzeihen sie das Bild, eben auch eine Verarbeitungsmühle mit der Tendenz, alles gleich und erträglich zu machen. (Vorstellen kann ich mir manches: etwa die Babyficker-Perspektive Allemanns, aber da käme ich selbst schon in’s Vorschreiben.)

    Beste Gruße!

    (@Anobella: doch, ich finde den DeLillo-Roman, der Erträglichkeit zum Thema macht, ganz gelungen.)

  5. Hallo, Frau Krimi, nein, es geht hier nicht um Affektabfuhr, sondern eigentlich um das genaue Gegenteil. Nicht der Krimi soll uns von der Wirklichkeit ablenken (oder besser: die dort angestauten Affekte im Fiktiven ausleben lassen), sondern die im fiktiven Verbrechen sichtbar gemachten Affekte sollen auf ihren Ursprung, den nichtfiktiven Alltag umgeleitet werden.
    Und die Geschichte aus Österreich ist eben NICHT Wirklichkeit, sobald wir über sie zu reden, zu spekulieren beginnen. Dann ist sie schon Krimi, weil wir sie in ausschließlich diesen Kategorien betrachten. Das literarische Verfahren besteht also darin, die Genremerkmale (das Justitiable) ganz allmählich aus der Geschichte zu entfernen und auf den Boden des nicht justitablen Alltags zurück zu bringen. Das ist dann natürlich auch wieder Literatur – aber eine, die den Krimi quasi rückwärts erzählen würde. Nicht vom Alltäglichen ins Unerhörte, sondern vom Unerhörten ins Alltägliche.

    bye
    dpr

  6. Natürlich ist alles Literarisierung, lieber JL, aus dieser Zwangsjacke kommen wir nicht heraus. Vielleicht sollte man sich wirklich mehr um Literatur kümmern, die etwas „erträglich“, weil millionenfach ertragen, macht, Literatur, die aus dem Zugespitzten / Spannenden ins Abgeflachte / Alltägliche zurückweist. Die Allemann-Perspektive als extreme Zuspitzung ist ja vor allem hinsichtlich der Rezeption von Literatur interessant – wobei ich mir nicht sicher bin, ob Rezeption nicht überhaupt das Zauberwort in dieser ganzen Diskussion sein könnte.

    bye
    dpr

  7. Hallo,

    ich habe unsere Standpunkte eigentlich nicht als gegensätzlich wahrgenommen, sondern sehr komplementär. Aber so wie Du es erklärst, sind sie natürlich gegensätzlich. Allerdings erscheint mir die Sache sehr imperativ, Du redest von „sollte“. Dann interessiert es mich, wie Du den Status Quo siehst im Gegensatz zu diesem „sollte“.

    Dass die Geschichte aus Amstetten nicht Wirklichkeit ist, sobald wir über sie zu reden und zu spekulieren beginnen, gut das mag sein. Wie mir scheint, sind wir beide etwas konstruktivistisch unterwegs und tun uns sowieso schwer mit der „Wirklichkeit“. Aber nur weil die Geschichte nicht Wirklichkeit ist, sondern eine soziale Konstruktion der Wirklichkeit, ist sie für mich noch lange nicht Krimi. Ich bin keine Literaturwissenschaftlerin und wenn es diesen Menschen nicht gelingt, das Genre zu definieren, werde ich es gar nicht erst probieren. Aber was „Krimi“ für mich schon ausmacht: Es ist erstens eine kulturelle Leistung, also Literatur oder Film und zweitens Fiktion (auch True Crime ist letztlich Fiktion, behaupte ich einmal frisch und fröhlich bis jemand etwas anderes behauptet). Im aktuellen Fall kann ich zumindest die kulturelle Leistung nicht erkennen. Die Fiktion noch eher, die ist allgegenwärtig. Ich gestehe, mir wird der Begriff „Krimi“ allmählich zu beliebig, wenn „Krimi“ jede beliebige soziale Konstruktion beschreibt, die sich mit irgendeiner Art von Verbrechen beschäftigt.

  8. daß man das Genre nicht definieren könne, steht zwar im Reallexikon der dt. Literaturwissenschaft (also da, wo die Götter des Faches ihre sauber abgezirkelten Hainchen haben), ist aber trotzdem falsch (zumal, wenn man sich konstruktivistisch auf die Wege macht). Ich bin grad dabei, einen genau 25 Jahre alten Versuch zu exhumieren und justiziabel zu machen. Mehr dazu, sobald ich die Judenbuche gefällt habe.

    Beste Grüße!

  9. Die „kulturelle Leistung“ hat längst begonnen. Jetzt reden schon, wie ich den Nachrichten entnehmen durfte, allerhand Psychologen und – gerade eben – „Traumaexperten“ über den Fall, den sie – wie du und ich – auch nur aus den Medien kennen. Was hier geschieht, ist das, was auch beim Schreiben eines fiktionalen Textes geschieht. Man versucht sich „ein Bild“ zu machen, eine Art Plot zu entwickeln, die beteiligten Personen und die Zusammenhänge in den Griff zu bekommen. Das hat mit „der Wirklichkeit“ wenig bis gar nichts mehr zu tun, das ist alles längst pulverisiert und wird nun manigfach in „kulturellen Leistungen“ zu Fiktionen zusammengesetzt. Und die meisten funktionieren ähnlich wie Krimis funktionieren, sie übernehmen die dort üblichen Dramaturgien und Dichotomien. — Auch True Crime ist natürlich Fiktion. Und der Herr Linder hat Recht, wenn er nicht mehr zwischen beidem unterscheidet. Frau Schenkel hätte natürlich für ihr Tannöd sich auch eine beliebige andere Story gleichen Zuschnitts ausdenken können. Das hätte am Textgehalt selbst wenig geändert, wohl aber an der Rezeption (einschließlich Plagiatsvorwurf), die bei solchen „wahren Geschichten“ eben besonders aufmerksam hinhört.
    Dem Herrn Linder ins Stammbuch: Klar kann man das Genre definieren. Machen wir doch auch unermüdlich. Das Problem: Eine Definition A schließt eine Definition B nicht notwendigerweise aus. So wird Definieren zum Nichtdefinieren, die Zuspitzung nur zu einem weiteren Punkt auf einer Fläche.

    bye
    dpr

  10. Das Tragische ist: Nachdem ich mich jetzt stundenlang damit beschäftigt habe und mir die Genregrenzen schon aus den Ohren heraus rauchen, komme ich immer mehr zu dem Schluss, den Anobella ganz am Anfang gezogen hat. Und das, obwohl sie sich so kindisch am Boden wälzt, was mich ganz ungemein kränkt. Sie sollte doch ein bisschen Respekt vor so weisen Worten wie „Affektabfuhr“ zeigen. Aber es hätte einfach ein Gschmäckle, die Geschichte jetzt in einen Krimi verbraten zu wollen. Diese mediale Psychologisierung übrigens auch. Die hat für mich das gleiche Gschmäckle. Da können halt ein paar Unbeteiligte ihre Nase in eine Kamera halten.

  11. Der Krimi ist halt eine multiple Persönlichkeit, wie der Herr Linder seinem zweiten Ich immer beim Dämmerschoppen zuraunt. Und das Fräuleinlein aus Wiesbaden wälzt sich auf dem Teppich wie weiland Goethe vor seinem Weimarer Fürsten. — Und solche Sachen wie die von Amstetten sind halt wahre Goldgruben für allerlei Geleut. Das ist besser als ein ICE, der in eine Schafherde brettert.

    bye
    dpr

  12. na ja, jetzt hab‘ ich den Namen einmal verlinkt: da könnten Sie einige Einzelteile finden (ich habe eben eine strenge Mahnung erhalten und kann nicht sagen, wie ich in den kommenden Wochen den eigenen Blog bedienen kann). Entscheidend ist, daß ‚Genre‘ nicht einen literarischer Aspekt im engeren Sinne bezeichnet, sondern ein literatursoziologisches Problem. Das drückt, wie mir scheint, auch dpr aus, wenn er die Rezeption zum ‚Zauberwort‘ ernennt.

    Beste Grüße!

  13. Und ich habe mich schon die ganze Zeit gewundert, ob es nicht Vexierbad heißen muss in der Überschrift. Hatte ich doch recht. Denn das ist genau das, was die Rezeption ausmacht.

  14. Ich verstehe nicht ganz, wieso die literarische Verarbeitung kurz nach einem Ereignis ein G’schmäckle haben soll, aber später dann nicht mehr. Ich denke, das ist dann eher wieder dem Rezeptoren anzulasten, der findet, sowas „darf man nicht“. (Warum auch immer. Ich stimme dem nicht zu: Man „darf“ schon. Wenn man’s kann. Bei Reemtsma ist es m.E. misslungen, weil er zu eitel war). Oder der schlechten Qualität eines Textes, der es ja meistens ist, wenn er auf ein Ziel hin geschrieben wurde wie es hier der angenommene Fall sein soll, nämlich den, Geld zu machen. Ein literarischer Text braucht meistens seine Zeit, um entstehen zu können, deswegen kommt er ja auch später. Aber wenn denn einer käme und es literarisch wunderbar löste, mit guter Sprache und literarischem Mehrwert – warum nicht?

  15. Also ganz ehrlich: Mit einem Autor, der bei der österreichischen Nachricht mit einem „Das isses!“ vom Sofa gesprungen ist, kann es nicht weit her sein. Erstens kann man sich so etwas leicht ausdenken, zweitens garantiert der Spektakelfaktor eines „Stoffes“ nicht höhere literarische Qualitäten. Es ist eben auch ein Rezeptionsphänomen: Mit was kriege ich möglichst viele LeserInnen rum? Mit der Sensation, klar. — Genredefinieren als Rezeption. Akzeptiert.

    bye
    dpr

  16. Mag sein. Käme aber auch auf das WIE an. Gerade dieses Jahr sind schon eine Reihe völlig „unglaubwürdiger“ Titel erschienen, die dann aber die Kurve gekriegt haben. Reichlin etwa.

    bye
    dpr

  17. Sag ich doch. Das „Wie“ ist alles, der Inhalt ist, sagnwama: recht wenig. Dass du mir noch mal zustimmst… Dann kann ich ja beruhigt fahren.

  18. Ja, fahr ruhig. Und hinsichtlich Zeitpunkt gebe ich dir auch recht (nu is aber genug!). Die Betroffenen werden jetzt brachial durch die Medien geschleift (gestern auch bei CNN), das ist posttraumatisierend genug. Alles eine Frage der Qualität, wobei ich immer noch sage: Och Kinners, habt ihr so wenig Phantasie, dass ihr euren Stoff aus den Sensationsnachrichten ziehen müsst?

    bye
    dpr

  19. Wie man diese Diskussion auch führen kann, bzw. welch absurde Blüten das treibt, ist hier nachzulesen: http://forum.krimi-couch.de/board-1-idThread-2855-offset-550.html.

    Gipfelt in dem schönen Ausspruch: „Im Prinzip ist der größte Teil dessen, was geschrieben wird, real.“
    Da lasse ich mir doch eine Wanne von volllaufen. Da wird sich in weiten Teilen keine Gedanken um literarische Zuordnungen gemacht, hauptsache „hart“ muss es sein. Vielleicht ist das eine neue Einteilung, die endlich eine klare Positionierung zulässt: harte und weiche Literatur. Vielleicht aber auch nicht (ist ein abbes Bein schon hart, oder nur ein leichter Unfall, hmm???).

  20. Je unempfindlicher der Magen, desto härter die Kost. Aber vielleicht ist das jetzt wirklich ein Fall für die PsychiaterInnen unter uns: Wieviel Affektstau gibt es auf den Highways der Wirklichkeit, damit die Krimimüllabfuhr immer robustere Fahrzeuge einsetzen muss, um diese Staus fiktional aufzulösen? Aber das passt ja durchaus auch in meine These, dass die Fiktion immer auch auf den Alltag zurückverweist.

    bye
    dpr
    *Geld her oder Bein ab!
    **schöner Krimititel!
    ***Geld her oder Därme raus!
    **noch schöner!

  21. Ich meine ja schon die längste Zeit, dass wir daselbe meinen. Alltagszurückweisungen und Affektabfuhr – wo ist denn da der Unterschied? Höchstens die Richtung – vom Krimi in den Alltag und umgekehrt.

  22. Wieso ist Glaubwürdigkeit im Sinne von „könnte sich so ereignet haben“ ein (Qualitäts-)Kriterium. Stimmigkeit ja, aber Glaubwürdigkeit? Die Anpreisung „nach einem wahren Fall“ schreckt mich eher ab. Dadurch bekommt das Lesen für mich so etwas Voyeuristisches, weshalb ich auch Zeitungsberichte zu diesem und ähnlichen Themen allenfalls querlese. Wenn ich mich – natürlich mit voller Abscheu – am Leid anderer Menschen ergötzen will, gehe ich auf den örtlichen Marktplatz. Das liegt in dessen Tradition, das Buch steht in einer anderen.

  23. Kriminalliteratur ist Kunst. Kunst ist Kunst. Sie hat einen geschlossenen Rahmen. Aus der Wirklichkeit kann nur der Anlass kommen, weil wir ja nichts anderes haben als unsere Wirklichkeit. Kunst hat keine Botschaft. Je mehr Botschaft, je mehr Propaganda. Ein jeder muss selbst herausfinden, was er damit anfangen kann. Und wenn Viele etwas Gemeinsames herausfinden, liegt es daran, dass dieses Allgemeingültige in der Wirklichkeit vorhanden ist oder ein intersubjektiver Kontext besteht. Ich will nicht Täter, Opfer oder sonst was sein, wenn ich einen Krimi lese, ich will ein Gesamtwerk erleben und darüber in den Dialog mit dem Autor treten. Ich will ein ähnliches Denken feststellen oder besser eine ganz neue Sichtweise auf die Welt, die ich mir dann aber erst über mehreres gedankliches Verarbeiten aneignen muss. Darüber transportieren sich dann auch die Gefühle.

    Viele Grüße
    Henny
    (*nach einem langen Arbeitstag etwas ungeordnete Gedanken.)

  24. Kunst hat einen geschlossenen Rahmen. Bis sie rezipiert wird… Ich mag auch keine Botschaften. Aber wenn ich lese, nehme ich Botschaften auf. Über Menschen, Dinge, Ereignisse, die Wirklichkeit, was immer das auch sein mag.Jedes Leben ist ja ein ständiges Schreiben am eigenen Roman und unterscheidet sich von Literatur nur dadurch, dass letztere eine bewusste Komposition ist, etwas Elaboriertes. Diese Keller-Inzest-Geschichte ist schon deshalb ein Roman, weil wir nur die Elaborate darüber kennenlernen können; nichts anderes. Den wahren Roman haben die Beteiligten, die Opfer, die Täter, die Mitwisser in sich drin und selbst wenn die Romane schreiben würden, wärens sofort wieder andere… Und überhaupt finde ich den thomas’schen Marktplatz spannender. Selbst wenn dort nur Alltag ablaufen sollte. — Und redens jetzt net von aner Alltagszurückweisung a noch, Frau Krimi! Da kommt das Fräuleinchen Anobella gar nicht mehr aus dem Wälzen raus!

    bye
    dpr

  25. Ui, da mag sich das Fräulein Anobella wohl wälzen, das ist ein schwerer Fehler. Alltagszurückverweisung sollte es heißen als Zusammenfassung von „dass die Fiktion immer auch auf den Alltag zurückverweist“.

    *beansprucht den Titel für die Substantivierung des Jahres

  26. Wenn man es so sieht, hat jeder seinen eigenen Roman in sich. Was solls. Der Amstetten- Fall wird nie ein Roman im literarischen Sinne, denke ich. Weil ein Künstler da nichts mehr draufsetzen kann. Es sei denn, er formt es aus einem anderen Blickwinkel, mit einer anderen Geschichte zusammen. Bei Ketchum haben wir ja mit Evil auch eine wahre Geschichte. Das Buch ist deshalb lesenwert, weil es aus Sicht des Jungen einen eigenen Standpunkt erhält. Und eigentlich denke ich wie Frau Anobella, wenn sich erstmal die Psychologen, vielleicht nach einem Jahr, über das Ereignis hergemacht haben, kann man tiefer über Beziehungsstrukturen nachdenken.
    Guten Tag
    Henny

  27. Wird nie ein Roman …
    Es sei denn …
    Also geht es doch. Und ich hätte heute damit begonnen, wenn ich nicht erst einen anderen Roman zu Ende schreiben müsste.

  28. Wir können ja einen Autorenstammtisch veranstalten, mein Lieber. Sechs AutorInnen schreiben einen Roman über das Thema. Wer als erste(r) damit auf die Bestenliste kommt, hat verloren. — Ich nehme an, dass in den nächsten zwei Jahren Stücker fünf „Sachbücher“ dazu erscheinen werden, alle mit der knallhart recherchierten Wahrheit. Na dann…

    bye
    dpr

  29. Ja, ich finde es gut, dass Frau Jelinek drüber schreibt, wenn jemand schreibt. Weil sie in gewisse Gschmäckle nicht kommt: Erstens muss sich nicht bereichern, sie hat ja schon den letzten Roman nur im Netz geschrieben und mit einem Zitierverbot belegt, zweitens muss sie nichts mehr werden. Wozu sie das Foto braucht, weiß ich aber nicht. Es ist ja so, dass die österreichischen Medien darauf verzichtet haben (oder die Polizei hat die Bilder nicht hergegeben und sie haben den Verzicht behauptet), Datailfotos vom Keller zu zeigen, nachdem Frau Kampusch damals vehement (mit oder ohne Klage weiß ich jetzt nicht) darauf aufmerksam gemacht hat, dass „ihr Zimmer“ die Öffentlichkeit nichts angehe. Insofern ist das Foto voyeuristischer als wir es von der Berichterstattung gewohnt sind, bis zu den Kinderbildchen auf der Dusche.

    Zum Text will ich gar nichts sagen, wer traut sich denn hierzulande etwas über Frau Jelinek sagen: Niemand, sogar die Medien hier erwähnen den Text nur und schreiben nichts drüber. Die Welt traut sich das, die Süddeutsche und die „FAZ“, die zitieren sogar, obwohl das doch streng von der Autorin verboten wurde. Aber wozu das Bild? Wenn sie das Thema literarisch verarbeitet und rekonstruiert wozu das intime Tatortfoto? Ja, ich weiß, es geht um hinschauen und wegschauen. Aber welche Art Blick ist denn das?

  30. ich glaube, liebe Frau Krimi, daß das Photo unverzichtbar ist, denn es zeigt (keinesfalls intim), daß Österreich überall da ist, wo auch Obi ist, und daß Herr F. die Kehrseite der anfallsweisen Diskussionen über die ‚Vaterlosigkeit‘ markiert, von denen Österreich auch nicht allein betroffen ist.

    Beste Grüße!

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