Vor Jahreszahlen, die mit einer 8 enden, schaudert es mich. Schwärmt doch dann die gesammelte kritische Medienwelt aus und zerrt die üblich verdächtigen Zeitzeugen von „Achtundsechzig“ vor die Notizblöcke und Fernsehkameras, auf dass diese schwankenden Gestalten zum 20., 30., 40. Jubiläum ihre Sicht der Dinge zum Besten geben. Sie gockeln und sie blöken, sie giften und sie antichambrieren vor sich selbst – übel ist das, peinlich, manchmal ekelerregend.
Nicht weniger ärgerlich die meisten der Publikationen anlässlich der runden Wiederkehr jenes magischen Jahres 1968. Und auf einen Krimi zum Thema können wir nun wahrlich verzichten. – Dachte ich. Irgendwie. Nicht mal so sehr, weil Anne Chaplet als Autorin dieses Werkes annonciert wurde, sondern weil generell zu befürchten stand, wieder einmal ein Besinnungstextlein mit ungelenken historischen Einschüben vorgesetzt zu bekommen. Aber lesen wollte ich es natürlich; das sind schließlich garantierte Verrisse, auf die verzichtet der Kritiker nur ungern.
Tja. Und jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als Anne Chaplet für ihren „Schrei nach Stille“ zu loben. Zu loben, weil sie die Fallstricke souverän umgangen und ein Musterbeispiel für gelungene Kriminalliteratur abgeliefert hat. Das natürlich nicht allen gefallen wird, so wie einem James Sallis zu lakonisch, David Peace zu ordinär, Heinrich Steinfest zu skurril, Rex Miller zu schweinisch sein darf, und Anne Chaplet zu gediegen, zu bürgerlich. Aber das Genre ist groß genug, um auch ihr darin neidlos anzuerkennende Krimis bescheren zu können.
Neunzehnhundertachtundsechzig. Darum geht es also. – Nein. Eben nicht. Wir lernen Sophie Winter kennen, eine, wie man so sagt, Altachtundsechzigerin, eine Mitläuferin, ein „Blumenmädchen“, das einst mit zwei anderen Hippies aufs Dorf gezogen war. Jetzt, fast vierzig Jahre später, kehrt sie zurück. Grau ist sie geworden und ein Buch hat sie geschrieben, einen Bestseller, einen autobiografischen Roman über diese Zeit in dem Dorf, die keine idyllische war. Ist doch ihre Mitbewohnerin Sascha damals spurlos verschwunden, ein Verbrechen nicht auszuschließen. Die Dorfbewohner beäugen sie misstrauisch, sie haben, das merkt man sofort, etwas zu verbergen. Mysteriöse Dinge geschehen, jemand verfolgt Sophie, beachtet sie, dringt in ihr Häuschen ein.
Okay, so oder ähnlich war das zu erwarten. Aber Anne Chaplet macht nun eine entscheidende Sache richtig, sie zeichnet ihre Protagonistin als einen Menschen, dem peu à peu sein Kurzzeitgedächtnis abhanden kommt, Alzheimer nennt man die Krankheit. Je mehr sie aber den Kontakt zum Jetzt verliert, desto intensiver wird der zur Vergangenheit. Das ist beinahe rührend zu beobachten, eine tragische Volte, die den Text in die richtige Richtung lenkt, weg von den Schlagwörtern, hin zum verkorksten Innenleben aller Beteiligten.
Und etwas Zweites gelingt der Autorin: die sukzessive Aufklärung des Falles, die Dramaturgie der Ermittlung. Sie wird von zwei Personen unabhängig voneinander geführt, von Chaplets bekannter Serienfigur Paul Bremer, der in besagtem Dorf wohnt, und dem Polizeibeamten DeLange, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist und in dieser Funktion bei den Dreharbeiten zur Verfilmung von Sophie Winters Buch zugange ist. Als Gewährleister des „polizeilich Authentischen“, gewissermaßen. Die beiden Ermittlungsstränge laufen lange Zeit parallel, ohne sich zu berühren, aber sie ergänzen sich. Während Bremer die Vergangenheit seiner Mitdorfbewohner zu erhellen versucht, steht DeLange für die Zerstörung des „Authentischen“, des schönen Scheins. Ohne es zu groß beschreiben zu müssen, deutet Chaplet hier an, was von allen „Erinnerungen“, allem Medialen zum historischen Ereignis zu halten ist: nichts als ein Zurechtbiegen, ein Beschönigen, bestenfalls eine weitere Interpretation unter vielen, die der schnöden Wirklichkeit nicht standhalten.
Soweit zum psychologischen und historischen Setting des Romans, in dem es um das Sicherinnern und seinen Authentizitätsgrad geht (der erschreckend niedrig und willkürlich ist), bei Sophie Winter, wo die Vergangenheit überhand nimmt, bei der Dorfbevölkerung, die gerne das Gestern zugunsten des Heute verdrängen würde, also an der entgegengesetzten Form von Gedächtnisverlust leidet. Spätestens hier springt der Text aus seinem zeitgeschichtlichen Korsett und wird zu einem hübschen Stück subtiler Psychologie, Sophie Winter stets pars pro toto für eine Generation merkwürdig in der Vergangenheit eingeklemmter Menschen ohne Gegenwart.
Sogar die genreüblichen Verwicklungen und Dramen wirken nicht wie Fremdkörper (in Ordnung; den Herrn DeLange beutelt die Autorin vielleicht ein wenig zu sehr). Der verschwundene Junge Luca etwa, nach dem quasi am Rande gesucht wird und der zum Schluss ein letztes Mosaiksteinchen im großen Teppich ist, wirkt ebenso plausibel in diesem Szenario wie manch dörfliche Nebenfigur.
Also. „Schrei nach Stille“ ist ein Musterbeispiel dafür, wie man mit durchdachter Komposition und Figurenzeichnung selbst dem ausgemergelsten Thema eine spannende Seite abgewinnen kann. Chapeau, Frau Autorin.
Anne Chaplet: Schrei nach Stille.
List 2008. 334 Seiten. 19,90 €