Was „Krimi“ ist, weiß bis heute kein Mensch. Die Schlauen geben das zu, die nicht ganz so Fixen im Geiste beharren auf Definitionen, wie sie zuhauf angepriesen werden. Nach einer allgemeingültigen Begriffsklärung suchen sie indes alle, das ist wohl Menschenschicksal. Neben den üblichen Exkursionen ins vorwiegend Inhaltliche („Krimi ist, wenn gemordet wird, wenn ein Ermittler auftaucht, wenn deduziert und kombiniert wird…“) und (Literatur)Geschichtliche („Krimi ist, was wie Agatha Christie oder Raymond Chandler oder Heinrich Steinfest klingt“) respektive Schulmeister-Ästhetische („Krimi ist, was nicht Literatur ist“) gibt es ein weiteres Feld, auf dem wir die leidige Frage unter Umständen klären könnten. Es ist nur nicht leicht zu benennen, dieses Feld, und deshalb tun wir es auch noch nicht. Sondern beginnen dort, wo aller Krimi irgendwann endet: beim Leser, bei der Leserin.
Erste Vorlesung: der Lesefluss
Wer einem Kriminalroman Gutes nachsagen möchte, der bescheinigt ihm, sich flüssig lesen zu lassen. „Konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen“, „habs in einem Rutsch gelesen“, neulich gar zu meinem nicht geringen Ergetzen die Forderung, die Story hätte „mitreisender“ sein können. Nun ist es aber so: Wer derart über einen Text redet, der plappert damit auch über sich selbst. Denn zum Lesen gehören immer zwei: ein Text und sein Konsument. Es könnte also sein, dass sich ein Krimi mitnichten „flüssig“ lesen lässt, der Konsument aber gar nicht anders kann als flüssig zu lesen.
Denn auch das muss leider erwähnt werden: Nichts ist dem Denken unbekömmlicher als das Lesen. Oder anders: Wer flüssig liest, der kann bestenfalls zähflüssig denken, probieren Sies mal aus. Das ist nun ein Charakteristikum von Unterhaltungsliteratur: sich von einem Text durch diesen selbst ziehen lassen, um nicht denken zu müssen, weil man schon rein technisch beim Lesen gar nicht denken kann (oder nicht vernünftig), höchstens nach-denken, wenn einem Herr / Frau Autor da im murmelnden Bächlein der galoppierenden Handlung die Wörter liefert und die dazu passenden Gedanken gleich servicevorbildlich dazu.
Würden wir nun, unser Vorlesungsziel einer alternativen Typologie vor dem inneren Auge, zu einem Schnellschuss tendieren, es wäre wohl der, zwischen Fluss-Lese-Krimis und Hochwasser-Denk-Krimis zu unterscheiden, denn bekanntlich wird bei Hochwasser alles um einen Strom herum überschwemmt (beim Lesen: der Leser) und der Fluss des Stromes wenigstens partiell und temporär zum Stillstand gebracht. Aber, wie gesagt: Schnellschuss.
Denn, mein Gott, wo steht denn geschrieben, dass man beim Lesen denken müssen muss? Ist es nicht gerade der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Krimidefinitions-Kombattanten einigen können, dass ein Krimi, weil zur Spannungsliteratur gehörend, spannend sein sollte, eine Spannung, über die nachzudenken ich genötigt bin, aber so kontraproduktiv ist wie ein Fernsehkrimi, der, kurz bevor der Mörder zuschlägt, durch eine Werbung für Damenbinden unterbrochen wird? Denn Spannung, wie stellen wir uns die eigentlich bildlich vor? Exakt: wie ein gespanntes Seil, das nicht durchhängt, nicht unterbrochen wird.
Das wiederum führt zu einer ernüchternden Erkenntnis: Krimis, bei denen ich nachdenken muss, sind nicht spannend, ja, sie sind nicht einmal Krimis. Ich kann höchstens nachher anfangen zu denken oder auch zwischendurch, wenn ich den Krimi nicht auf einen Sitz verschlinge (Eine Schlinge ist übrigens kein gespanntes Seil, assoziiert es gerade in mir). Ein idealer Krimi wäre somit einer, der beim Lesen spannend und beim Hinterherdenken komplex ist. Denn Komplexität, das sagen wir jetzt mal einfach so und werden es gleich erläutern, ist der Hauptfeind des Leseflusses.
Hier wären wir an einem hochwichtigen Punkt angelangt, der quasi eine alte Dichotomie ad absurdum führt, die von U- und E-Literatur nämlich. Oder wieder anders: Krimis gelten unter anderem deshalb als blankes Zeitvertreibmedium, weil sie literarisch nicht auf der Höhe der Zeit sind, zumeist im Stil eines heruntergekommenen Realismus des 19. Jahrhunderts verfasst (um Thomas Wörtche leicht zu paraphrasieren; sein Bändchen liegt unten auf dem Couchtisch und ich hasse es, meinen Schreibfluss zu unterbrechen, bloß um korrekt zu zitieren). Andererseits kennt die Geschichte der Kriminalliteratur inzwischen eine Menge sogenannter „komplexer Kriminalromane“, deren Vertracktheit unter anderem dadurch zustande kommt, dass sie nicht mehr kontinuierlich erzählen, sondern sich dem alten Dichterwort „Mein Leben? Ist kein Kontinuum!!“ verpflichtet fühlen, ergo zur „modernen Literatur“ gehören, die, das nur nebenbei, irgendwann im 18. Jahrhundert beginnt, jedenfalls in der Prosasparte.
Das wäre doch nun eine schöne typologische Krücke: Wir unterscheiden zwischen Kontinuitätskrimis und Diskontinuitätskrimis. Und nehmen als drittes noch die Mischform des Sowohl-als-auch-Krimis dazu. Aber Moment: So einfach ist das leider auch nicht.
Im aktuellen Heft von wtd – die Zeitschrift bespreche ich zwei merkwürdige Kriminalromane, Jerome Charyns „Citizen Sidel“ und Tana Frenchs „In the woods“ (der deutsche Titel „Grabesgrün“ ist bäh). Erster ist selbst bei wohlgesonnenster Lektürehaltung nicht flüssig zu lesen – wird es aber doch. Weil wir kraft Erfahrung im Krimilesen automatisch dazu neigen, etwas „dem Genre“ zuzurechnen, nur weil Krimi draufsteht oder eben aus Erfahrung (Charyn!) Krimi drin sein muss. Wir lesen „Citizen Sidel“ also krimimäßig weg, finden keine Spannung und sind rasend enttäuscht. Dieses Phänomen nenne ich die „künstliche und mechanische Verflüssigung eigentlich fester Körper“, etwas, das man nicht nur, aber vor allem bei Kriminalliteratur erlebt. Es soll Menschen geben, die Derek Raymond flüssig lesen, um ihren Bedarf an Schlachtszenarien zu decken. Das müssen merkwürdig verbogene, durch ihr Leben schleichende Kreaturen sein. In Wirklichkeit nämlich lassen sich weder Charyn noch Raymond flüssig a la Krimi konsumieren, es ist Denkarbeit, ja, archäologisch-erfinderische Schwerstarbeit erforderlich, bei der während des eigentlichen Leseprozesses nur stichwortartig notieren kann, wo man später nachgegraben werden sollte. Oder aber: Der Leseprozess muss unterbrochen werden (Diskontinuität), mithin das gespannte Nervenseil zum Erschlaffen gebracht, um eine andere Art von Spannung zu erzeugen, die sich aus dem Finden verborgener Strukturen speist, also eine Art Schatzsuche ist: Abenteuerliteratur.
Bei Tana French ist es ähnlich und doch anders. Sie erzählt uns gleich zwei Krimis in einem, wovon der offensichtliche sehr wohl spannend im tradierten Wortsinne ist, der zweite hingegen die Spannungserwartungen düpiert. Das Gemeine daran: Beide Stränge sind nicht voneinander zu trennen, sie bedingen sich. Ich lese also hier durchgehend „flüssig“, muss aber am Ende erkennen, dass ich damit der Komplexität der Geschichte nicht gerecht werde.
Man sieht: Es ist nicht einfach, das Phänomen des Leseflusses typologisch eindeutig zu verifizieren. Wir haben jetzt immerhin einige Besonderheiten herausgearbeitet und werden im zweiten Teil unserer Vorlesung untersuchen, wie denn alles auf die Reihe zu bringen wäre. Als hilfreich dabei erweist sich die kursorische Betrachtung anderer Formen von „Krimi“: Film / Fernsehen, Comic / Graphic Novel. Aber verzehren Sie jetzt erst einmal Ihre Pausenbrote und suchen Sie das Rauchenzimmer auf, wenn Sie es partout nicht lassen können.
dpr