Alternative Typologie des Kriminalromans -2-

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Zweite Vorlesung: Noch einmal über den Lesefluss, unter besonderer Berücksichtigung von Bildern

Die Qualität eines Krimis definiert sich über die Geschwindigkeit, mit der seine Lektüre erfolgt. Ein in zwei Tagen zur Gänze verschlungener Text von 300 Seiten ist ergo „besser und spannender“ als ein Text gleichen Umfangs, für dessen Bewältigung geschlagene fünf oder sechs, gar sieben Tage draufgehen.
Dass die Sache so einfach nicht ist, haben wir →im ersten Teil unserer literar-physikalischen Vorlesung bereits erwähnt. Und sie wird in Zukunft auch nicht einfacher werden, ganz im Gegenteil. Denn ein neues Medium packt den Krimi und entreißt ihn, wenigstens zum Teil, seinem natürlichen Umfeld, der Sprache. Wir sprechen von den „Graphic Novels“, in den USA bereits Boomgenre, hierzulande zumindestens auf dem Weg ins Bewußtsein der Konsumenten. Was man schon daran erkennt, dass Fred Vargas‘ in Kollaboration mit dem Zeichner Baudoin entstandenes Werk „Das Zeichen des Widders“ es geschafft hat, auf eine gewisse Liste zu kommen und Thomas Wörtche, seit vielen Jahren ein Kenner und Beobachter des Genres, dieses an vielen Orten dringend empfiehlt.

Comics. Das ist schon so ein Stichwort. Ein übelannotiertes, und wäre man sarkastisch, man könnte feststellen, dass es das literarische Schmuddelkind Krimi geschafft hat, unter Stand zu heiraten, das sozialschwache Unterschichtenkind Comic nämlich, den wir, als wir selbst Kinder waren, nicht mal unter der Bettdecke ohne schlechtes Gewissen lesen konnten, während derweil über der Bettdecke Schillers „Glocke“ trostlos und ungehört verbimmelte.

Aber unser Thema ist die Lesegeschwindigkeit. Und da steht es denkbar gut – und denkbar schlecht – um die Graphic Novel. Gut, weil so ein Hefterl, auch wenn es ein Buch ist, in Nullkommanichts durch ist. Sind ja nur Bilder und Dialoge, vielleicht irgendwo eine Art knappe Regieanweisung noch. Schlecht, weil der gemeine Krimileser, die gemeine Krimileserin es zwar schätzt, ein sagen wir für 10 Euro erworbenes Lese-Buch in zwei Tagen durch zu haben, aber keine 20 für ein dünnes Büchelchen ausgibt, dem man binnen zwei Stunden den Lektüregaraus machen kann. Und prompt lese ich in einem bekannten Krimiforum bitteres Wehklagen über den Vargas-Titel und seine Hochpreisigkeit…

Und jetzt kommts: Eine gelungene Graphic Novel von, nehmen wir: 80 Seiten kann zu einer tage-, gar wochenlangen Beschäftigung werden. Vorausgesetzt: Der Autor versteht sein Handwerk und der Zeichner das seinige ebenso. Und wenn dann beides auch noch zusammenpaßt – mon dieu, was für ein langlebiger Genuss kann das werden!

Aber einer, der uns in puncto Lesegeschwindigkeit vor neue Probleme stellt. Im Gegensatz zum Film nämlich bewegen sich bei Graphic Novels die Bilder nicht, die Rezeptionsgeschwindigkeit ist also nicht vorgegeben. Wir, die LeserInnen, sind die menschlichen Projektoren, die für die Bildgeschwindigkeit verantwortlich sind und den inneren Film steuern. Nehmen wir ein willkürliches Beispiel.

Eine kurze Reise durch eine durchschnittliche Landschaft. Der Held, behaupten wir, fährt mit dem Zug und schaut dabei aus dem Fenster. Als Hersteller von reinen Wort-Bildern kann ich das sehr ausführlich-naturalistisch (schlichtere Gemüter würden behaupten: realistisch) bewerkstelligen oder aber knapp, in Einzelbildern. Ich kann es in einer „bewegten Sprache“ tun, die die Geschwindigkeit quasi vorgibt oder in einer bild- und assoziationsreichen, die den Lesefluss immer wieder hemmt. Im Film kann ich das auch. Muss jedoch beachten, dass selbst statische Einzelbilder dort einer allgemeinen Filmgeschwindigkeit unterworfen sind. Die Graphic Novel steht genau dazwischen. Hier sind es entweder Film-Bilder, die Stück für Stück rezipiert werden wollen, oder eben wirkliche Einzel-Bilder, deren Bedeutung aus der statischen Betrachtung hervorgeht, was natürlich die Lese- (besser: Betrachtungs-) Geschwindigkeit hemmt. Entscheidend ist die Intention des Zeichners in Zusammenarbeit mit dem Autor. Das, was ein Autor in Wörter und Worte (man beachte den feinen Unterschied!) packt, das löst der Zeichner visuell auf. Bestenfalls ist er ein zweiter Hogarth (bitte googeln) und bestenfalls ist der Betrachter ein zweiter Lichtenberg (bitte noch einmal googeln). Die Geschwindigkeit wird zum Stillstand, die Geschichte auf dem Papier zur Geschichte im Kopf. So gesehen, sind Graphic Novels in ihrer Wirkung Nur-Texte mit anderen medialen Möglichkeiten. So wie ein Film, der in 90 Minuten vor uns abflimmert, bestenfalls auch dem Nur-Text ähnelt. Nämlich darin, dass er mich zum Nachdenken und Assoziieren bringt. Ob während der Rezeption oder danach, ist eigentlich wurscht. Ich behaupte aber, das man Buch oder Graphic Novel oder Film immer erst nach der Lektüre / dem Anschauen wirklich liest / betrachtet.

2 Gedanken zu „Alternative Typologie des Kriminalromans -2-“

  1. kein mensch will mein comic zeichnen …

    *mault

    der israelische beitrag zum nächsten oscar ist übrigens ein zeichentrickfilm (bitte googeln)…

  2. Missverständnis, resp. Schludrigkeit meinerseits: TW liest natürlich nicht „plötzlich“ Comics, sondern mindestens schon seit zwei Jahrzehnten mit Kennerblick. — für alle, die den Beitrag schon gelesen haben. Für alle anderen hab ichs schon geändert.

    dpr

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