Der Mensch ist ein Körper. Dazu gesellt sich der Verstand, und alles wird ungemein kompliziert. Was dann an Realitäten und Wahrnehmungen entstehen kann, zeigt uns der Mann, der unzählige Betrachtungsweisen durch Raum und Zeit geschickt zusammenklaubt, um sie elegant aufeinanderprallen zu lassen. So z. B. geschehen in der Jimmy Paz-Trilogie (vgl. Wendekreis der Nacht, 2004 ; Das Totenfeld, 2007 und das noch nicht übersetzte Night of the Jaguar, das im Frühjahr 2010 in deutscher Übersetzung vorliegen soll).
In dieser Trilogie verwebt Michael Gruber gewitzt Werte- und Denksysteme, sodass vermeintliche Gewissheiten, Sicherheit und Zweifel ins Taumeln geraten. Auch im jüngst erschienenen Shakespeares Labyrinth inszeniert Gruber eine Partitur, die ein Mosaik von Parallelitäten zusammenpuzzelt. Wer war Shakespeare? Was bedeuten seine Stücke für die Welt? Ein klug gewählter Ausgangpunkt und guter Nährboden für wilde Spekulationen, akademische Ränke und kulturphilosophische Spurensuche. Wer oder was schafft Wirklichkeit? Was ist Fiktion? Und wie wird beides konsumiert? Der Wissen- und Zweifel-Infiltrierer Gruber hat in Shakespeares Labyrinth indes zu schwungvoll in den Fundus der Fiktion gegriffen und zu stark mit dem Bestseller-Virus à la Sakrileg geflirtet. So landet der Leser in der Kulisse der Aufführung der Aufführung und fühlt sich bald düpiert.
Ein Frittierfettbrand im benachbarten Schnellimbiss – das Löschwasser tat ein Übriges – führt zu einem immensen Schaden in Mr. Glasers Antiquariat für ‘Seltene Bücher’. Um größere materielle Verluste zu vermeiden, machen sich die beiden Angestellten Albert Crosetti und Carolyn Rolly daran zu retten, was zu retten ist. Dabei finden der Filmnarr Crosetti und die sehr spezielle Rolly, die auch Raleigh (!) heißen könnte, nicht nur versteckte Briefe aus dem 17. Jh., die auf ein unbekanntes Shakespeare-Manuskript verweisen, sondern auch in einer wilden Nacht zueinander. Dachte zumindest Crosetti. Und da ihn seine Lüste ziemlich ablenken, verscherbelt er einen Teil der Schriften, die ein gewisser Bracegirdle geschrieben hat, an den durch eine falsche Expertise in Verruf geratenen Shakespeare-Experten Professor Bulstrode. Bald wird Crosetti klar, dass man ihn reingelegt hat. Dann verschwindet Rolly, dann auch der Professor, der kurz nach seinem erneuten Auftauchen gefoltert und ermordet wird. Und Crosetti selbst landet in einem wüsten Abenteuer.
Währenddessen führt ein zweiter Erzählstrang in das Leben des bulligen ‘Lincoln-Anwalts’ Jake Mishkin. Der einstige Olympionike im Superschwergewicht ist ein auf Urheberrechte spezialisierter Anwalt, der sich an einem geheimen Ort versteckt hält. Wie er in diese missliche Lage geraten ist, schreibt er in der Retrospektive (in der Ich-Form) ausschweifend auf. Ein Mandant, der windige Professor Bulstrode, hat Mishkin um Rat gebeten und ihm das Bracegirdle-Manuskript zur Aufbewahrung übergeben. Nach Bulstrodes Ableben beging Mishkin eklatante Fehler, landete auf der Abschussliste von Gangstern und fand sich letztlich mit Crosetti auf der Jagd nach dem Shakespeare-Manuskript wieder, die beide bis nach England verschlagen sollte.
Ins England des 17. Jahrhunderts führen den Leser in diese zwei Erzählperspektiven eingebunden die (originalen?) Bracegirdle-Briefe. Dort schwirrt die Luft von Verrat und Intrige : der Spion Bracegirdle erschwindelt sich ein Plätzchen, das ihn an der Seite des Barden Shakespeare postiert. Doch kann man diesen Briefe trauen? Gibt es tatsächlich ein verschollenes Shakespeare-Manuskript?
“Wenn du eine große Lüge erzählen willst, dann schütze sie gut mit tausend wahren Geschichten, auf dass sie in deren Mitte mit durchgehen möge”, heißt es im Text. Und so mag auch Grubers Erzählkonzept zu verstehen sein : Ist es möglich, aus (1000 vielleicht ?) Bestsellern einen neuen zu tüfteln, um eine große Lüge zu kaschieren?
Der anständige Junge Crosetti, der naturgemäß nicht gut bei den Mädels ankommt, sucht nach dem perfekten Skript für sein Leben. Oder für einen gescheiten Film, den er drehen will. Nun ist aber Crosetti vornehmlich die Rolle des ‘wandelnden Filmlexikons’ zugewiesen, sodass er am laufenden Band aus Filmen zitieren darf, die bei Gruber – wie selbstverständlich auch die Shakespeare-Werke – kräftig in Figurenzeichnung und Handlungsabläufe einfließen. Als Protagonist jedoch kann Crosetti wenig mitreißen.
Der Anwalt Jake Mishkin, der aus einem komplizierten Nazi-Juden-Genpool entsprungen ist, befürchtet, dass Gangster ihn ermorden werden, und legt vorher eine Art Lebensbeichte ab. Eine komplizierte Kindheit, eine gescheiterte Ehe und außergewöhnliche Kinder lasten auf seiner Seele. Vor allem aber bereitet ihm seine Sexsucht, die seine Ehe ruinierte, schwere Schuldgefühle. Leidet er wirklich an einer Krankheit? Ist er in seinen Fiktionen gefangen? Oder ist Mishkin nur ein Sex and The City-Boy oder gar ein moderner Giacomo Casanova, der gern Bescheid gibt über seine vielen Amouren und unzähligen Gespielinnen?
Hier schließt sich ein Kreis im Sittengemälde über die Zeiten. Denn sagt man nicht, dass das Schauspiel Unzucht und Verderbtheit unters Volk brachte? Wobei Shakespeare ordentlich zu dieser ‘unmoralischen’ Veranstaltung beitrug. Intrigen, Religion und Politik, zu knackende Codes – das alles ist hinlänglich aus Bestsellern bekannt. Gruber bemüht sich um sehr klassische Konstellationen, verulkt böse (er selbst schrieb lange als Ghostwriter) das Gesetz zu kreativem Urheberrecht und spielt seine bekannten Spielchen mit Zitat und Wirklichkeit. Doch bleiben Grubers Protagonisten auf der Jagd nach einem verlorenen Shakespeare-Manuskript erstaunlich gleichgültig. Da fehlt der mitreißende Funke Leidenschaft. Man vergesse kurz Browns Sakrileg, erinnere sich an Ecos Der Name der Rose oder auch an Pérez-Revertes Club Dumas, in dem skurrilste Bibliophile und Bibliomane den Leser in ihre sonderbaren Welten locken. Bei Gruber indes verliert sich der Leser bald im wuchernden (De-)Konstruktionsgestrüpp von Film, Buch, Tragödie und Komödie.
Stendhal schrieb, ein Roman solle ein Spiegel sein, den man eine Straße entlang führe. Gruber nun scheint diesen Spiegel wieder und wieder zu reflektieren und landet post-postmodern auf einem völlig überfüllten Fiction-Highway im Rush Hour-Stau. Michael Gruber, der große Hantierer mit Verstandesosmose, hat aus einer riesigen Fundgrube von Klassikern geschöpft. Dabei hat er zwar mit vielen Gaunereien und mit kecken Anspielungen auf seine Kollegen den Sub-, den Metatext schön verrätselt, der Hintersinn scheint sich jedoch beim Verkünsteln irgendwo verflüchtigt zu haben.
Michael Gruber: Shakespeares Labyrinth (The Book of Air and Shadows, 2007). Roman. Deutsch von Ulrike Seeberger. Berlin : Aufbau 2009. 583 Seiten. 19,95 Euro.