Christiane Geldmacher: Rheingauer Spitzen – Leseprobe –

KAPITEL 2

„LEICHHARDT! SIND SIE SCHON IN WIESBADEN?!“
Mit spitzen Fingern hatte ich die Nummer des Wiesbadener Polizeipräsidiums gewählt und Juskowiak drehte gleich durch, als ich ihn dranhatte. Ich schaute auf die Uhr: Es war erst elf. Völlig unmöglich, dass ich schon zu Hause hätte sein können. Der reine Terror.
„Ganz ruhig, Chef“, versuchte ich, den Kerl zu beruhigen. „Hören Sie … ich hab das ganze Zeug gelesen, das Sie mir durchgemailt haben … Den Tatortbefund, den Obduktionsbericht, die Zeugenaussagen … ein ungewöhnlicher Mord, zugegeben … und ich will gern helfen. Ich hätte einen Kompromiss…“
„Kein Kompromiss! Sie setzen sich sofort ins Auto!“

„Chef … HERMANN! Ich kann mir alles dank Ihrer Mail sehr anschaulich vorstellen. Wirklich. Und viele Infos finden sich im Netz. Ich muss gar nicht in Wiesbaden zu sein. Super! Ich sekundiere Ihnen von Berlin aus, via Intranet. Wie finden Sie das? Wir ziehen das ganz technisch auf. Sie sammeln den aktuellen Stand der Ermittlungen und ich gebe meinen Senf dazu. Hey, es könnte klappen!“
„Sind Sie verrückt geworden?“
„Überlegen Sie doch! Sie haben die ganze Knochenarbeit – Tatort, Obduktion, Zeugenaussagen – schon erledigt. Wir beide müssen nur im großen Bogen denken. Sie brauchen nicht meinen Körper, Sie brauchen meinen Geist!“
„Schluss jetzt! Sie kommen unverzüglich zurück!“ Juskowiak hatte genug von dieser Debatte. „Ich fasse es nicht, dass Sie immer noch in Berlin sind!“
„… kann leider nicht. Helfe morgen einem Freund beim Umzug!“
Ich hörte, wie der Kollege Klaus Schorndorf sich im Hintergrund aufpumpte. „Lassen Sie ihn doch, Chef! Soll er sich doch erholen, WÄHREND WIR HIER DURCHDREHN!!!“
Juskowiak hüstelte. „Sie hören es, Leichhardt: Die Nerven liegen blank. Wir erwarten Sie Montag zurück.“
Ich brüllte: „Ich habe mehr als zwei Jahre um mein Sabbatical gekämpft, das gebe ich nicht schon nach drei Wochen wieder auf!“
„Unsere Abmachung lautete: Nur solange es keine schwierige Leiche gibt!“, brüllte er zurück.
„Falsch! Die Abmachung lautete: Auch MIT schwieriger Leiche!“
„Oh nein! Nur die normale Messerstecherleiche war abgedeckt! Oder, Schorndorf?“
Klaus Schorndorf, stellvertretender Personalrat des Polizeipräsidiums Westhessen, hatte damals – wenn auch nur zähneknirschend – der Bewilligung meines Sabbaticals zugestimmt. Dann hatte er mir monatelang damit in den Ohren gelegen.
Jetzt fiel die Ratte mir natürlich sofort in den Rücken. „Er hat hier anzutanzen, keine Frage!“
Juskowiak versuchte es mit einer anderen Taktik. Er senkte seine Stimme um zwei Oktaven. „Ich muss Sie nicht dran erinnern, Ludwig, wie schwer es war, im Präsidium dieses merkwürdige Sabbatical durchzusetzen. Nicht nur der Polizeipräsident, auch die Presse war Ihnen gegenüber sehr negativ eingestellt. Es gab sogar eine aberwitzige Sicherheitsdiskussion für die Stadt Wiesbaden. Für mehrere Wochen kürte Uwe Baier Sie im Tageskurier zum Aussteiger des Jahres. Wenn Ihnen also was an Ihrem Job liegt, kommen Sie am besten zurück.“
„Ich habe meinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegt!“
„BERLIN!“ Juskowiaks Stimme wurde schrill. „Dieses Hauptstadtgetue geht mir sowieso auf die Nerven! Welcher normale Mensch würde ein Sabbatical in Berlin verbringen? WER? Jeder normale Mensch würde in die Südsee fahren!“
Das hätte ich auch mal besser gemacht, dachte ich, dann hätte ich jetzt den Kerl nicht am Apparat. Ich überlegte, ob ich ihm davon erzählen sollte, dass es bei der Gewerkschaft der Polizei im Netz eine Stellentauschbörse gab, die bundesweit eifrig von Kripobeamten frequentiert wurde. Bei der Gewerkschaft nannten sie das „den individuellen Lebensplanung unterstützen.“
„Hier ist ein Wiesbadener umgebracht worden! Sie können nicht einfach so tun, als ob Sie das einfach nichts anginge, nur weil Sie in der Hauptstadt sind! Dieser Fall muss geklärt werden! Hier läuft ein Mörder frei herum. Ich versuche schon seit Tagen, Sie zu erreichen.“
Mein Lokalpatriotismus hielt sich in Grenzen. Stattdessen betrachtete ich einen Artikel in der BERLINER ZEITUNG über einen drohenden Ausbruch der Maul- und Klauenseuche bei Wildschweinen im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin. Das Land Brandenburg erwog eine orale Immunisierung der Tiere. „Das Sabbatical verfällt, wenn ich es unterbreche“, murmelte ich.
„Wo haben Sie diesen Quatsch her? Nerven Sie mich nicht, Leichhardt! Hören Sie…“ Juskowiak probierte es zur Abwechslung mit Schmeichelei, „… Sie fehlen uns. Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll: Sie können so schön vereinfachen! Unsereins sitzt noch da und kämpft mit hundert Spuren und Sie schauen flüchtig über die Unterlagen und es sind nur noch drei. Ein paar Tage später haben Sie den Täter, wir wissen gar nicht woher. Ihre intellektuelle Geschmeidigkeit, Ihre rasierklingenscharfe Ermittlungsarbeit, Ihre kreative Einzelleistung, Ihre, ich möchte fast sagen übersinnlichen Fähigkeiten…“
Ich stöhnte auf. „Juskowiak, sparen Sie sich den Mist! Ich komm nicht zurück!“
„Herrgott! Was machen Sie die ganze Zeit in Berlin, zum Kuckuck?!“
„Ich denke nach! Eine schöpferische Pause!“
„Schöpferische Pause, wenn ich das schon höre! Und nachdenken können Sie auch hier! Wir sehen uns Montag im Büro!“
„Nein!“
„Doch! Schorndorf kann sich nicht in Rosenkränze und Gewürznelken hineindenken!“
„Aber ich? Ich kann das, oder wie?“
Ächzend klickte ich erneut in die Anhänge von Juskowiaks Mail und schaute mir die Fotos des Opfers an. Juskowiak hatte natürlich recht. Dieser Mord war nichts für Klaus Schorndorf. Er könnte geradezu ein persönlicher Racheakt an dem Kollegen sein. Irgendeiner, der genau wusste, dass er Hautausschlag von so einer Leiche kriegte. „Nur damit ich es richtig verstehe: Sie erwarten, dass ich nach – was? drei Wochen? – mein Sabbatical abbreche, um in Wiesbaden einen Mörder zu jagen?“
„Genau, Ludwig. Ich hätte es nicht präziser formulieren können.“
Im Hintergrund verlangte Schorndorf, mich zu sprechen. Es kam zu einem diffusen Gerangel am Ende der Leitung, dann war Schorndorf dran und schaltete auf Freisprechanlage. „Leichhardt? Das ist vielleicht ein Fall! Ich kann dir sagen!“
Ich biss in mein Marmeladebrötchen und goss mir einen Kaffee ein. „Ich komm nicht, Klaus.“
„Hast du was im Mund? Ich versteh dich so schlecht. Hör mal, ich möchte, dass DU die Sache übernimmst. Ich hab noch einen Haufen anderer Baustellen, die ich beackern muss. Ich geb dir mal die Details: Das Opfer hieß Heinrich Osterhoff, er lebte in Frauenstein…“
Schorndorf sabbelte mir noch mal den ganzen Fall runter, obwohl ich ihn nicht eben erst auf der Mail durchgearbeitet hatte. Wenigstens konnte ich so zu Ende frühstücken, der Bursche schwatzte und schwatzte. Nach zehn Minuten fragte ich mich dennoch, ob er heute noch mal irgendwann die Kurve kriegen würde.
„… ist ein VIP … arrogant … kurzum ein Arschloch, wie man kaum ein zweites in der Republik findet … die Presse des ganzen Landes hat sich auf den Fall gestürzt. Wenn du´s gescheit anstellst, wirst du berühmt. Ich werde dir ein Jahr lang deine Fälle abnehmen!“
„Ich bin ein Jahr in Berlin, du Komiker!“
„Ich sehe den Artikel schon vor mir: Ludwig Leichhardt, Berliner Expatriate, kehrt nach Wiesbaden zurück und löst in Rekordzeit einen Mord! Damit kannst du auch dein Image in Wiesbaden wieder etwas aufpolieren, das im Moment, unter uns, gegen null tendiert. Ich wette, dann sind zwei Jahre Sabbatical für dich drin. Oder, Chef?“
„Also so ein Unsinn, Schorndorf!“
„Das Ding ist der Ermittlungsjackpot des Jahres! Die Kollegen in Mainz ärgern sich grün und blau … Darmstadt schmiert kluge Ratschläge rein … Frankfurt platzt vor Neid…“
Mir reichte es endgültig. „Okay, Klaus. Schönen Tag noch, auch für Juskowiak! Erzählt mir bei Gelegenheit, wie die Sache ausgegangen ist! Macht einen interessanten Eindruck. Mal sehn, ob ich es in der Presse verfolgen kann…“
„ICH HAB NOCH DIE LEICHE IM WESTEND, VERFLUCHT NOCH MAL!“
Das war glatt gelogen, diese Leiche war schon zwei Wochen vor meiner Abfahrt durchgewesen. „Was ist überhaupt mit den Kollegen Cuntz und Kessler?“, fragte ich gereizt.
„Der eine hat Schweinepest, der andere die Vogelgrippe.“
Juskowiak flötete aus dem Hintergrund: „Die beiden sind auf WEI-TER-BIL-DUNG!“
Ich hängte die beiden ab und vergrub das Handy tief in meinem Wäschesack. Dann schloss ich den kleinen Schwarzweißfernseher an, den der Vormieter dagelassen hatte und bekam tatsächlich nach ein paar Minuten ein paar Sender rein. Irgendwann waren auch Juskowiak und Schorndorf zu sehen. Sie gaben eine Pressekonferenz und in einem eingeklinkten Fenster zogen Archivbilder aus Heinrich Osterhoffs Leben vorbei: Osterhoff mit Pferden, Osterhoff mit Golfschlägern, Osterhoff in freier Rheingaulandschaft. Ein Familienvideo zeigte den Journalist mit seinen Kindern Boris und Nadja, im Hintergrund die dauerlächelnde Ehefrau Evelyn. Boris und Nadja wurden von ihrem Vater an den Schultern festgehalten und hielten die Köpfe schräg, als ob sie die Sonne blendete. Aber es war keine Sonne da. Eine großbürgerliche Familie in Super Acht.
Ich setzte eine Mail ins Präsidium ab:

chris_krimi_mail.jpg

Keine zwei Minuten später, noch bevor ich eine Mail meines Vaters zu Ende gelesen hatte („… gibt es hier eine sehr interessante Leiche…“), bingte die Antwort Schorndorfs in mein Postfach. Sie trug den Betreff BIST DU NOCH GANZ DICHT?! und lautete: SIEH ZU, DASS DU DEINEN ARSCH HIER RUNTERKRIEGST. Die Cc-Antwort Juskowiaks schloss sich dem im Prinzip an.

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