Wenn man schon nicht die Finger von den Maigret-Romanen lassen kann und manche Neuerscheinung deshalb zum Mauerblümchen wird, dann sollte man die Lesefrüchte auch schriftlich festhalten. Diesmal führen sie uns weg von den Verbrechen ins ganz normale Ehedasein und seine Abgründe…
„Maigret und das Gespenst“ gehört zu den konventionelleren Abenteuern des Pariser Kommissars. Auf Inspektor Lognon, genannt „Inspektor Griesgram“, den notorischen Pechvogel, wird ein Mordanschlag verübt. Und – deshalb „konventionell“ – auch genreüblich aufgeklärt. Das Besondere an diesem Roman ist die Rolle einer Person, deren Unauffälligkeit in der Maigret-Saga beinahe sprichwörtlich geworden ist.
Über Madame Maigret weiß man wenig. Sie ist Teil von Zeremonien. Steht der Kommissar morgens auf, bringt ihm seine Frau eine Tasse Kaffee ans Bett. Hat Maigret Feierabend, gibt es ein gutes Abendessen und man setzt sich vor den Fernseher. Ab und an geht man ins Kino. Schafft es Maigret nicht zu den häuslichen Mahlzeiten, informiert er seine Frau telefonisch, nicht mit dem Essen auf ihn zu warten und lässt sich statt dessen vom Kellner der nahen Brasserie Dauphine mit Bier und Sandwichs versorgen. Kurz: Madame Maigret funktioniert in allen Lebenslagen. Wir wissen, dass sie aus dem Elsass stammt, Kontakt zu ihrer Schwester hat, kinderlos ist. Eine interessante Biografie sieht anders aus. Frau Maigret – Pardon, Madame – bleibt reichlich blass. Von sich aus fragt sie ihren Mann selten nach dem aktuellen Fall. Und Maigret gehört nicht zu denen, die privat gerne über ihre Arbeit reden. Als Leser wartet man ständig darauf, dass sie einmal mit der Faust auf den Tisch haut, „ausbricht“, opponiert. Allein: Man wartet vergebens. Also: Was sollen wir uns näher mit ihr beschäftigen? Sie ist eine Nebenfigur, Staffage.
Nicht so in „Maigret und das Gespenst“. Dort geht es um Ehepaare und ihre Arrangements. Lognon, das Opfer, ist mit einer kranken Frau verheiratet, die er nach Dienstschluss aufwendig pflegen muss. Wir erfahren aber, dass die Krankheit der Frau eingebildet ist, eine Art Trotzreaktion auf die Enttäuschung über das mangelnde berufliche Fortkommen Lognons. Anders verhält es sich bei dem reichen holländischen Kunstsammler Jonker und seiner bedeutend jüngeren, natürlich betörend schönen Frau Mirella. Sie führen eine „offene Ehe“. Beide Paare haben sich augenscheinlich arrangiert, so wie sich auch die Maigrets arrangiert haben.
Und dennoch ist es bei den Maigrets anders. In „Maigret und das Gespenst“ wirkt Madame aktiv mit. Sie betreut die „kranke“ Frau Lognons und sammelt dabei wichtige Informationen. Die Routine der Ehe gerät ins Wanken, als Maigret seine Frau – zum Mittagessen in ein Lokal einlädt:
„Sie traute ihren Ohren nicht. Wenn sie – an einem Samstag oder Sonntag – überhaupt jemals im Restaurant aßen, dann so gut wie nie zu Mittag, schon gar nicht, solange eine Untersuchung im Gange war. (…) Besonders Madame Maigret war in höchst angeregter Stimmung, ihre Augen strahlten mehr als sonst, und ihre Wangen röteten sich, während sie sprach. Wenn Sie zu Hause aßen, redete vor allem er, weil sie nichts Interessantes zu erzählen hatte. Jetzt aber wusste sie, dass sie ihm nützlich war.“
Man kann sich nicht des Eindrucks einer gewissen, ins Komische schwappenden Tragik erwehren. Madames tristes Dasein erhält plötzlich einen Sinn, Monsieur hat sich herabgelassen, ihr zuzuhören, ja, er nennt ihre Informationen gar nützlich. „Sie sah ihn an, ungläubig noch und trotzdem beglückt. Das Mittagessen bei ‚Manière‘ sollte eine ihrer schönsten Erinnerungen werden.“ Arme Madame…
Im weiteren Verlauf der Handlung begegnen wir Madame immer wieder. Sie berichtet ihrem Mann, sie wird aber auch bei allen möglichen Gelegenheiten beiläufig erwähnt. Einmal sagt der gereizte Jonker: „Ich bin überzeugt, Monsieur Maigret, an Ihrem Privatleben würde mir ebenfalls vieles sonderbar, wenn nicht gar unverständlich erscheinen, wenn ich überraschend bei Ihnen auftauchen, jeden Winkel durchsuchen und Ihre Frau mit Fragen überschütten würde.“
Recht hat er, mehr sogar als er glaubt. Das Sonderbarste erfahren wir, nachdem Maigret ein Telefongespräch mit seiner Frau beendet hat: „Er sprach sie nicht mit ihrem Vornamen an, und sie ihn nicht mit dem seinen. Er nannte sie nicht Liebling, ebenso wenig wie sie ihn. Wozu auch, da sie sich doch in gewisser Weise fühlten, als wären sie ein und dieselbe Person?“
Entbehrt nicht einer gewissen Logik – wer nennt sich schon selbst beim Vornamen oder gar Liebling? – ist aber, bei genauerer Betrachtung, ziemlich unheimlich, ja, um beim Romantitel zu bleiben, geradezu gespenstisch. Keine Frage, wer bei dieser Einswerdung auf der Strecke geblieben sein muss; Madame nämlich. Auf gewisse Funktionen reduziert (dass eine sexuelle dazugehört, kann man sich schlechterdings gar nicht vorstellen), führt sie die niederen Tätigkeiten dieses neuen Doppelwesens aus. Einerseits. Andererseits: Was wäre Maigret ohne sie? Maigret braucht seinen Rahmen, sein Geregeltes. Er ist wenigstens so abhängig von ihr wie sie von ihm.
Ein Arrangement wie bei Jonker und Lognon ist das nicht. Ein Arrangement kann man beenden, doch über dieses Stadium sind Madame und Monsieur Maigret längst hinaus. Untrennbar sind sie. So betrachtet, müssen wir uns, wenn wir vom Protagonisten Maigret reden, die Protagonistin Madame Maigret immer mitdenken. Sie ist eben die große Unbekannte in dieser Konstellation.
dpr
Georges Simenon: Maigret und das Gespenst. Sämtliche Maigret-Romane Band 62. Diogenes 2009 (Maigret et le Fantôme. 1964. Deutsch von Barbara Heller). 171 Seiten. 9 €