„Er war drauf und dran, diese braven, anständigen Leute zu verabscheuen.“
Warum tut sich Kommissar Maigret nur so schwer mit diesem Fall? Monsieur Josselin ist in seinem Wohnzimmer ermordet worden, ein ehemaliger Fabrikant, dann Rentier, glücklich verheiratet, keine besonderen Vorkommnisse. Und alle, alle sind wie er: so brav, so reputiert, anständig eben. Gut; wir verstehen den Kommissar. Das ist nicht sein Metier. Dort wo gemordet wird, kann es mit dem Anstand nicht weit her sein. Doch einer dieser Biedermenschen muss der Täter sein – dafür spricht alles. Nur wie will Maigret die Maske vom Gesicht des Mörders reißen, wenn auf diesem Gesicht gar keine
Maske sitzt?
„Maigret und die braven Leute“ wurde am 11. September 1961 vollendet – und wir wagen uns gar nicht vorzustellen, wann Georges Simenon den ersten Satz des 180-Seiten-Romans geschrieben hat. Am 10. September, am 9., am 8.? Er schrieb viel und er schrieb schnell, dieser Band ist der 58. vom 75, in denen der Diogenes Verlag seit geraumer Zeit „sämtliche Maigret-Romane“ veröffentlicht. Wer viel schreibt, wer dazu schnell schreibt, der kann nicht gut schreiben. Diesen Gemeinplatz hat Simenon ad absurdum geführt. Er konnte nicht nur gut schreiben, er beherrschte auch die Kunst, Dinge nicht zu formulieren, sie aber für die Sensibleren unter seiner Lesern anzudeuten. „Maigret und die braven Leute“ bildet da keine Ausnahme.
Eigentlich haben wir es mit einem geradlinigen Polizeiroman zu tun. Monsieur Josselin wird ermordet, man alarmiert die Polizei, Maigret, gerade aus dem Sommerurlaub zurück, erscheint am Tatort und beginnt mit seiner Arbeit. Die Familienangehörigen des Opfers (Frau, Tochter und Schwiegersohn) werden befragt, die Concierge, die Nachbarn, die Geschäftsinhaber der Umgegend, Kellner, Bekannte, frühere Angestellte. Das ist nicht sehr aufregend, eher betulich. Maigret findet heraus, dass der Mörder die Tat von langer Hand geplant haben muss. Er hat sich in der Wohnung Josselins mehr als gut ausgekannt. Zudem wurde offensichtlich nichts entwendet, kein Raubmord, kein kriminelles Milieu weit und breit. Brave Leute. Maigret verflucht sie.
Warum eigentlich? Brave Leute, die zu Mördern werden, halten den Druck nicht aus. Sie haben Leichen im Keller – oder der Getötete hatte sie. Jeder andere Autor von Spannungsliteratur würde nun damit beginnen, die Abgründe zu entdecken, die Katastrophen, die aus dem Ruder gelaufenen Leidenschaften. Nicht so Simenon. Er neckt uns. Der einzige Abgrund, den er im Leben Josselins finden wird, führt in ein Büro für Pferdewetten, das der Ermordete gelegentlich aufgesucht hat, um ein paar Francs zu setzen. Mehr gibt es da nicht zu entlarven.
Noch einmal: Warum mag Maigret diesen Fall nicht? Ganz einfach: Er ist doch selbst einer von den braven Leuten, und wenn er tatsächlich „Dämonen“ finden sollte in all der Biederkeit, dann sind es womöglich seine eigenen. Hier dreht sich die Geschichte, wird aus dem Polizeiroman ein allerliebst psychologischer.
Maigret ist also verunsichert, und das zeigt er. „Warum begann er beim Essen die beiden Frauen [Frau Maigret und Frau Josselin] miteinander zu vergleichen, obwohl doch keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen ihnen bestanden?“ So wiegelt er ab. Und denkt weiter. „Maigret ertappte sich dabei, dass ihn diese Details so sehr beschäftigten, als handle e sich um Angehörige seiner eigenen Familie.“ Und nicht nur die. Auch die Freunde der Maigrets, die Pardons, ebenfalls brave Leute. Wie Frau Josselin geht „auch Madame Pardon (…) fast jeden Nachmittag ihre Tochter besuchen, die im vergangenen Jahrgeheiratet und seit ein paar Monaten ein Baby hatte. Falls die Maigrets ein Kind gehabt hätten, wäre es jetzt wahrscheinlich auch verheiratet, und Madame Maigret würde wie die anderen…“
So ist das nämlich: Maigret steckt in der Zwickmühle. Wenn er den Fall nicht löst, also die braven Leute die braven Leute bleiben, ist auch seine Welt weiterhin eine heile. Aber er MUSS den Fall lösen, dazu ist er nun einmal Kommissar Maigret.
Vieles aus der unheilen Welt, die Maigret durchaus vermutet, wird im Verlauf des Romans ganz zart angedeutet, mit spitzen Fingern angefasst und sofort wieder fallengelassen. Die Ehe der Josselins mag in Ordnung gewesen sein – aber weiß man es wirklich? Die Ehe der Tochter Josselin indes… Sie ist mit einem Kinderarzt verheiratet, den sein Beruf auffrisst, der sich gerne von seinem Beruf auffressen lässt. Das kann nicht gutgehen, geht vielleicht schon nicht gut. Manchmal denkt Maigret in diese Richtung – und wendet sich dann doch ab.
Wie entkommt er nun aber seinem Dilemma? Die Welt der braven Leute darf nicht zerstört werden, aber man kann es drehen und wenden, wie man will: Es ist ein Mord geschehen, der Mord muss aufgeklärt werden. Das Dilemma Maigrets wird das Dilemma seines Autors Simenon, es ist nur um den hohen Preis der Verletzung der Genregesetze aufzulösen.
Die Genregesetze. Kläre den Fall logisch auf, präsentiere uns den Täter. Genau das tut Simenon nicht, aber wie er das nicht tut, hat schon Stil. Tatsächlich wird der Täter ermittelt (wir lernen ihn nicht persönlich kennen, im ganzen Roman nicht), aber ob er es auch wirklich ist? Die Wahrscheinlichkeit mag hoch sein, Gewissheit verschafft uns Simenon keineswegs. Ja, er mutet uns, um alles in der Schwebe zu halten, einen unlogischen Schluss zu. Erinnern wir uns: Der Täter muss die Tat geplant haben. Er lockt mit einem fingierten Notruf den Arzt-Schwiegersohn aus Josselins Wohnung, so dass dieser dort alleine ist. Dann verschafft er sich Zutritt zum von der Concierge überwachten Haus, indem er sich für einen anderen Bewohner ausgibt. Er weiß, wo Josselins Waffe liegt, er weiß, wo der Schlüssel zur „Dienstbotenkammer“ unterm Dach hängt, in der er sich seelenruhig bis zum nächsten Morgen aufhalten wird, um dann ungesehen in all dem Trubel aus dem Haus zu schlüpfen. Und nun dieser Täter. Vieles, fast alles spricht dafür, dass er NICHT mit dem Vorsatz, Josselin zu töten, dessen Wohnung betreten hat. In Ordnung, Maigret entwickelt ein flüchtiges Szenario, das diesen Vorsatz berücksichtigt. Aber wirklich überzeugend ist es nicht.
Wir zweifeln also an Maigrets Version, so wie er es selber tut. Und der vermeintliche Täter wird nicht in die Verlegenheit kommen, sich dazu zu äußern, davor sorgt Simenon schon. Am Ende, Monate später, ein verräterischer Satz: „Maigret musste noch einmal in die Rue Notre-Dame-des-Champs gehen;“ – musste? Warum muss Maigret die Witwe Josselin aufsuchen? Er lässt sich von der Hausdame melden, wartet im Wohnzimmer, dem einstigen Tatort. Der Roman endet mit einem zweiten verräterischen Satz: „Ihm war trotz allem danach, sich die Stirn abzuwischen, als er sich flüchtig im Spiegel betrachtete.“
Ja, Maigret hat sich in diesem Fall mit den braven Leuten flüchtig im Spiegel betrachtet. Was er gesehen hat, dürfte ihm nicht gefallen, einen kleinen Schweißausbruch verursacht haben. Maigret / Simenon ist es gelungen, die Angst vor der Selbstspiegelung mit der Pflicht des Polizisten zu versöhnen. Der scheinbare Mörder gehört zu den feinen Leuten – und doch wieder nicht. Sein Leben ist der Abgrund des Bürgerlichen, in den Maigret nicht schauen darf – und Simenon, indem er Maigret offensichtlich diensteifrig zur Seite steht, uns doch einen Blick werfen lässt.
All das geschieht ohne viele Worte. Andeutungen, mehr nicht. Abgründe, die keine sind, vielleicht nicht – vielleicht doch? Wir werden es nie erfahren, ebenso wenig, wie wir je Klarheit darüber gewinnen werden, ob der Täter nun der Täter war oder nicht.
Das alles steht in „Maigret und die braven Leute“, einem Roman, von dem wir in düsteren Momenten annehmen, Georges Simenon habe ihn in drei oder vier Tagen geschrieben. Wie lange hätte man selber dafür gebraucht? Und hätte das Ergebnis dem Vergleich standgehalten? – Darüber: kein Wort.
Georges Simenon: Maigret und die braven Leute.
Diogenes 2009 (Maigret et les braves gens. 1962. Deutsch von Ingrid Altrichter).
181 Seiten, 9 € (Band 58 von "Sämtliche Maigret-Romane)