Nein, keine literaturtheoretischen Einlassungen an dieser Stelle. Nur das: Durch viele Texte ziehen sich mehr oder weniger offene Bedeutungsstränge, die, richtig miteinander verknüpft, so etwas wie einen Subtext, ein zusätzliches Zeichen- und Bedeutungssystem ergeben. Fast immer wird dabei mit Synekdochen gearbeitet. Ganz allgemein: Das was der Text auf seiner Oberfläche aussagt, ist auf seiner Subebene entweder eine Spezifierung oder eine Verallgemeinerung – oder beides. Wenn wir z.B. Gregor Samsa als Käfer wiederfinden, geht es nicht um die Person Gregor Samsa, es geht um den Menschen an sich in seiner Entfremdung. Habe ich das erkannt, kann ich von dieser höheren Warte des Allgemeinen wieder auf das Spezielle, vielleicht auf meine eigene Situation schließen.
Und jetzt zu Jim Nisbets „Dunkler Gefährte“. Dort wird mit einem sehr offenen Subtext gearbeitet, der explizit synekdochal funktioniert. Nisbet selbst verwendet das Wort in seinem Text. Wir begegnen dem indischstämmigen Kalifornier Banajhee Rolf, den gerade das schnöde Leben völlig aus der Bahn geworfen hat. Seinen Job als Chemiker hat er verloren, weil Heuschrecken seine Firma aufgekauft und für ihre Aktionäre profitabel gemacht haben. Seine Altersversicherung ist höchst gefährdet, ebenso die Ausbildung seines studierenden Sohnes. Einen neuen Job wird er nicht finden, weil Banajhees letzte ärztliche Untersuchung ein paar Herzprobleme hat offenkundig werden lassen. Seine Ehefrau fährt nach Chicago zum studierenden Sohn und will sich dort einen Job suchen. Man wird das Häuschen im teuren Kalifornien verkaufen, sich sanieren und nach Chicago ziehen. Banajhee ist allein zu Haus.
Da begegnet ihm sein Schicksal in Gestalt des etwas zwielichtigen Nachbarn Toby Pride und seiner recht freizügigen Freundin Esme. Die beiden streiten sich, Banajhee fungiert als Moderator und landet in der nachbarlichen Wohnung, wo ihn etliche härtere Getränke in eine lockere Stimmung versetzen. Dann kommt es zu einem Zwischenfall, der Banajhees Leben völlig verändert. Er setzt sich in ein Auto, verlässt Kalifornien und seine Existenz, bis sich in einem Spielkasino in Nevada sein Schicksal endgültig erfüllt.
Banajhees große Leidenschaft gilt der Astrophysik, besonders den Neutronensternen. Neutronensterne sind Objekte von extremster Dichte und mit daher ziemlich ulkigen Schwerkraftphänomen. Die physikalischen Gesetze, wie wir sie kennen, existieren nicht mehr oder in ihrer aberwitzigsten Form. Wer sich mit Neutronensternen beschäftigt, landet sehr rasch bei der Chaostheorie, die ja eigentlich eine Ordnungstheorie ist.
Und genau das ist „Dunkler Gefährte“: Ein Buch über Chaos und Ordnung, das uns die unappetitlichen Einzelheiten des American Dream vorführt (die sich inzwischen ja fast eins zu eins auf Deutschland übertragen lassen), die Auswirkungen brutalkapitalistischer Mechanismen auf den Einzelnen und ihre Widerspiegelung im Großenganzen des Kosmos. Dabei werden nicht nur die Gesetze der äußeren Natur, sondern auch die der inneren, der Moral und Ethik aufgehoben oder geraten in skurrile Turbulenzen.
Das Schönste an Nisbets Buch: So offen dieser Subtext auch vor einem liegt (eine Sache, die eigentlich ziemlich langweilig werden kann), so vielseitig interpretierbar bleibt er doch. Ein synekdochales Spiel, gewissermaßen, sehr schön auch der Auftritt des alten Goldgräbers am Schluss, der uns noch einmal auf den realexistierenden Boden US-amerikanischer Ideologie zurückholt. Du machst ein Vermögen, haust es sofort auf den Kopf und gehst wieder raus, um ein neues Vermögen zu machen. Zwischendurch waschen dich ein paar willige Mädels in der Badewanne wieder sauber.
Dabei verlieren wir Banerjhee nie als Person aus den Augen, bei allen Abschweifungen ins Allgemein-Bedeutende, in die Struktur des Lebens selbst gewissermaßen, bleibt er als Subjekt kenntlich. Eine glatte Empfehlung also. Und adäquat übersetzt, auch wenn ich den Originaltext nicht kenne. Es passt aber, weil die Diktion dem entspricht, was Nisbet uns erzählen möchte, auf welcher Ebene auch immer..
Jim Nisbet: Dunkler Gefährte.
Pulp Master 2010
(Dark Companion. 2006. Deutsch von Frank Nowatzki und Angelika Müller).
191 Seiten. 12,80 €