3 Minuten noir

Man muss nicht wie Derek Raymond die Gesellschaft für einen Zustand halten, der nur im Schreibmodus des noir sichtbar wird. Ein Röntgengerät ist er durchaus, denn noir erlaubt einen Blick durch das Fleisch auf die Knochen unseres Zusammenlebens und seiner Regeln. Nur: Ein Skelett ist ein Skelett, und das agiert höchstens in Gruselfilmen als zusammenhängend Menschliches. Ansonsten ist es nichts weiter als ein Haufen Knochen, ohne Muskeln und Sehnen, ohne Fleisch und Fett die Andeutung von Form.

Noir ist eine Denk- und Sichtweise, lediglich dann erkennbar, wenn Muskeln und Sehnen durchtrennt werden oder in Fleisch geschnitten, bei Verletzungen also. Noir ist kein Subgenre der Kriminalliteratur, sondern kann im Gegenteil von allen Subgenres verwendet werden. Im hardboiled taucht es zum ersten Mal auf, bei Hammett und Chandler, wir begegnen ihm bei Chester Himes und Derek Raymond, als hardboiled längst seine Attitüde verloren hat, seinen Zynismus aus enttäuschter Liebe und menschenfreundlicher Resignation. Im französischen néo polar zeigt noir seine aggressiv-analytische Seite und auch seinen Humor, obwohl wir dem schon sehr früh auch bei Hammett („Das große Umlegen“) begegnen.

In den vier ersten Bändchen der Reihe →Suite Noire, die der Distel Verlag nun vorgelegt hat (und die bald einzeln besprochen werden sollen), fällt die Allgegenwart von Humor ins Auge. Da wird eine Frau ermordet, weil sie nicht gut kochen kann, eine andere erhält immerhin noch Prügel dafür, ein Mann, der gerade einen tödlichen Autounfall verursacht hat, beginnt wie selbstverständlich zu morden, ein Detektiv löst den Fall nicht, lässt sich dafür von den Ganoven krankenhausreif schlagen und akzeptiert das, weil es seine Nase in Sachen gesteckt hat, die eine Nummer zu groß für ihn sind. Das alles lebt von der Übertreibung und die Übertreibung attackiert die Lachmuskeln, aber in allem steckt jenes Skelett des noir. Nur im vierten Büchlein, „Papas Musik“ von José-Louis Bocquet betreten wir die vollständig humorfreie Zone und befinden uns in einem Definitionsbereich des noir, der uns geläufig ist. Hier kommt noir als „griechische Tragödie“ daher, es gibt nichts zu lachen, die Dinge sind essentiell und tragisch. Aber gibt es wirklich nichts zu lachen? Es werden eine Menge wichtiger Dinge in diesem Text gesagt, Massen von Luft aus dem Mund geblasen. Doch am Ende kommt ein kurzer Wind aus einem anderen Loch, die Dinge regeln sich durch einen Furz von Handlung. Und das wiederum besitzt seine eigene Komik.

Man muss den noir suchen, dann findet man ihn gelegentlich auch dort, wo man ihn nicht vermutet. Er ist Antipode der in der Kriminalliteratur omnipräsenten Theorie des Heilbaren, des positiven Effekts von Entwicklung, wie sie durch Recherche gewährleistet werden soll. Alles nur Täuschung, das wusste schon Raymond: „Im Noir-Roman fällt die Menschheit in einer Bar oder in der Dunkelheit dem Wahnsinn anheim.“ Und was machen Wahnsinnige? Sie lachen und verrenken ihre Glieder, aber das Skelett bleibt in seiner Form.

dpr

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