(Und wieder dampft es – mal verführerisch, mal abscheulich – im Schlachtzimmer Wutschel, wo die Hausherrin mit geübter Hand Krimis zerlegt. Die Herren MacBride, James und Brown sowie Frau Welsh hat es diesmal erwischt, frisch tröpfeln die Buchstaben in den Auffangbottich und werden von der Schlachterin zu feinen kleinen Rezensionen verrührt.)
Einsätze versemmeln,
Frust-Saufen, Zeit totschlagen: Das Pleiten-, Pech- und Pannen-Team der Aberdeener Polizei hat auch ohne Kriminelle, die ihnen das Leben schwer machen, genug eigene Probleme. Detective Sergeant Logan McRae erledigt mehr schlecht, doch immer recht die Arbeit seiner Vorgesetzten. Und da alle eine große Familie sind, pflanzt sich dieses Gebaren in Blinde Zeugen in erstaunlichen Gefälligkeiten fort. Zudem wird ein Serientäter gejagt, der seinen – bevorzugt polnischen – Opfern die Augen aussticht. Während der Täter wilde Drohbriefe versendet und der Profiler insistiert, bei dem Gesuchten handle es sich um einen religiösen Fanatiker mit emotional distanzierter Mutter, taucht der einzige Zeuge, ein stadtbekannter Pädophiler, unter. Stuart MacBride renoviert garstig durch die Klischees des Genres und zirkelt hinterlistig seine Manege aus. Der Leser auf seinem Logenplatz kommt voll auf seine Kosten: eine absurd übersteuerte Hookline, Presto-Spannung sowie aberwitziges Amusement. Damit ist nicht nur ein rasant variierender Pulsschlag garantiert, sondern wundersamerweise auch ein sehr feinsinniger Blick in die verkuppelte Hölle von Gesellschaft und Individuum.
Stuart MacBride: Blinde Zeugen.
Manhattan 2010
(Blind Eye, 2009. Deutsch von Andreas Jäger).
605 Seiten. 14,99 Euro.
Sollte ein Roman
– wie Stendhal es einst formulierte – tatsächlich ein Spiegel sein, der auf einer großen Straße fortbewegt wird, schildert Und morgen bist du tot eine schleppend ermüdende Fahrt auf einer sehr langen und geraden Fahrspur: Bukarest – Brighton; Straßenkinder, die im Elend vegetieren, und drei Leichen, die man, nachdem alle lebenswichtigen Organe entnommen wurden, im Ärmelkanal entsorgt hat. Detective Superintendent Roy Grace ermittelt in einem Fall von internationalem Organ- und Menschenhandel. Um der Entsetzlichkeit seines Themas in all seinen Facetten beizukommen, legt Peter James seine Story allerdings überaus betulich dramatisch an, verirrt sich wirr in Wiederholungen, vertauscht Liebe mit Kitsch und Tragik mit Rührsal und verflacht damit alle tatsächliche Dringlichkeit. Dazu scharrt James so viel nebensächliches Beiwerk in seine Bilder, verspiegelt sich bei seinen Betrachtungen derart in Detailversessenheit, dass man glauben könnte, dies sei dann doch nur ein Krimi für die hemmungslos Neugierigen.
Peter James: Und morgen bist du tot.
Scherz 2010
(Dead Tomorrow, 2009. Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg).
522 Seiten. 18,95 Euro
Realitätsfluchten
sind ihr Ausweg. Die einen fliehen aus ihrem Land, um Leib und Seele zu retten, die anderen versuchen aus Überdruss, ihrem Alltag zu entkommen. Der Anwalt Richard vertritt einen Gangster vor Gericht, der einen Jugendlichen überfahren haben soll – der einzige Augenzeuge ist verschwunden. Und dann trifft Richard in einem Massagesalon auf eine nigerianische Edelprostituierte und erfährt zum ersten Mal den Rausch des Außersichseins. Die femme fatale jedoch kämpft als Flüchtling um das Überleben ihrer Familie. Ein existentielles Ungenügen an Welt treibt die Figuren um, und als sich ihre Wege kreuzen, reißen blinde Blasiertheit sowie Machtlosigkeit sie umso tiefer ins Verderben. Zwar lässt Andrew Brown seinen moralistischen Kopfmenschen Richard sich zu stracks in Obsession und Ekstase verschliddern, zwar bindet sich der Autor zu dicht an Klischees, dennoch ist Würde ein raffinierter, ein komplex dichter (Süd-)Afrika-Roman, der ganz poetisch melodiös von Leben und Hoffnung, ebenso liebevoll wie bedrohlich von Tod und Gräuel zu erzählen weiß – wie ein sanftes, aber entsetzlich nachhallendes Donnergrollen.
Andrew Brown: Würde.
btb 2010
(Refuge, 2009. Deutsch von Mechthild Barth).
382 Seiten. 19,95
Leidenschaft,
Betrug, Lüge, Gleichgültigkeit, Eifersucht, Vertuschung – lauter kleine Sünden, die schon manches Leben aus der Bahn geworfen haben. Als sich der Literaturwissenschaftler Dr. Watson entschließt, das gar nicht so stolperfreie Reservat seiner Bücherwelt zu verlassen, um sich auf die Spuren eines früh verstorbenen, fast vergessenen Dichters zu begeben, kann er nicht ahnen, wie dramatisch sein Abenteuer auf einem vom Sturm gebeutelten Eiland enden soll. Louise Welsh setzt ganz unaufdringlich anekdotenhafte Szenen zu einem sprachgewaltigen Rätsel über das Leben zusammen. Und zaubert dabei ganz mysteriös die dunklen Verwinklungen des homo sapiens hervor, ertappt Dämonen, die in Schach gehalten werden wollen. Der elastische Miederunterbau von Krimi wird flirtfreudig abgestreift, das starre Ausgeleierte des Gewöhnlichen scheint nicht zu interessieren. Stattdessen spürt Welsh die Verstörtheit auf, die hinter der Banalität lauert. Das Alphabet der Knochen ist eine hinreißende Schatzsuche, die sich auf sonderbaren, teils urkomischen Irrwegen Ausschweifungen zu erlauben scheint, dabei allerdings das Steuerrad immer ganz hart auf Kurs hält.
Louise Welsh: Das Alphabet der Knochen.
Kunstmann 2010
(Naming the Bones, 2010. Deutsch von Wolfgang Müller).
431 Seiten. 22,00 Euro.