Schreiben ist nicht Fotografieren

Nicht erst das dräuende Zeitalter des Dreidimensionalen – Menschen mit komischen Brillen vor Leinwänden und Monitoren – behauptet das Primat der plastischen Detaildarstellung über die flüchtige Konturenskizze. Es war schon immer so. Wer so zeichnen kann wie unsereiner höchstens fotografieren, gilt, zumindest in gewissen Kreisen, als künstlerisch hochbegabter als der Liebhaber des Abstrakten, bei dem ein Gesicht, falls überhaupt noch als solches erkennbar, immer zum bloßen Strichcode gerät.

Wer es mit der künstlerischen Tiefenschärfe hält, kontert den Vorwurf des Banausentums mit dem Hochlebenlassen des ehrlichen, weil verifizierbaren Handwerks. Ein paar Striche kann jeder (vor allem Kindergartenkinder, man kennt das Argument), à la nature hingegen ausschließlich das wahre Talent.
In der Literatur ist das nicht anders. Hier sollen Geschichten erzählt werden, Geschichten mit Menschen aus Fleisch und Blut, identifizierbarem, unverwechselbarem Personal, jede Falte, auch jede seelische, jede Regung, jede Eigenheit, 3D halt, so dass ich, Leser die Personen umkreisen und in aller Ruhe vermessen kann. Auch sonst, bitteschön, alles als wäre die Geschichte auf dem Papier eine Geschichte aus dem Leben selbst. Was einer tut, hängt mit dem zusammen, was einer ist, je klarer die Personenzeichnung, desto „nachvollziehbarer“ (warum fröstelt es mich nur immer so, wenn ich „Vollzug“ höre?) die Handlungen. Denken möchten wir schon, aber gefälligst nur in Bahnen, das Leben ist auch nichts anderes als ein 100-Meter-Lauf.

Nun wollen wir nicht das Hohelied auf das Abstrakte in der Literatur, der Kriminalliteratur gar, pfeifen, das wäre lächerlich. Die besten Beispiele des Genres lavieren stets zwischen den Fronten, zwischen literarischem Fotorealismus und Überzeichnung, zwischen dem tiefen Schnitt in die Psyche des Individuums und der aus höherer Warte aufgezeichneten Totale des großen Ganzen, wenn aus Charakteristika Codes werden, aus Biografien Soziogramme. Und andersrum, versteht sich.

Markenzeichen. Philip Marlowes scharfkantiger Humor, an dem er sich zuverlässig selber schneidet, um stellvertretend für andere zu bluten – nicht schlimm, nein, er trägt seine Seele im Blick, in den Gesten -, der aus dem Weltentsetzen in die zerberstenden Sätze springende Horror des namenlosen Sergeants bei Derek Raymond oder Wachtmeisters Studers helvetische Gemütlichkeit, die ein „Hocket ab“ als Liebeserklärung oder Verachtung variieren kann – all das sind Zeugnisse genauen Porträtierens, die sich bei genauerer Betrachtung des Ganzen von ihrem Gegenstand lösen und seine Unverwechselbarkeit in etwas Unpersönliches heben, einen Gesellschaftskommentar vielleicht oder einfach nur eine Transpositionierung, ein Übertragen vom Ich auf das Wir.

Kunst ist immer die Kunst des Weglassens und manchmal kaschiert man dieses Weglassen durch ein Überangebot. Marlowe, der Sergeant, Studer: Wir kennen sie erst, wenn wir sie nicht mehr kennen oder wenn wir etwas anderes in ihnen erkennen, uns oder andere oder Zustände und Handlungen. Mit der geläufigen Detailhuberei in noch geläufigeren Kriminalromanen hat das gar nichts zu tun, so wie das nach Feierabend nachgepinselte Schutzengelchen nichts mit Michelangelo zu tun hat. Es ist eine Fehlinterpretation von kriminalliterarischer Kunst – und gleichzeitig ein Missverständnis beim handelsüblichen Leser –, eine detailversessene Personenbiografie als unweigerlichen Pluspunkt zu verbuchen, obwohl es natürlich die Schreib- und Lesearbeit immens erleichtert. Ich kann die Figuren voneinander unterscheiden, was meistens sinnvoll ist, aber eben nicht immer. Denn dieser Weg aus der Präzision ins Vage funktioniert genauso, oder eben nicht, in die andere Richtung. In Stefan Kiesbyes „Hemmersmoor“ etwa agieren eine Handvoll Sprecherinnen und Sprecher in solcher Weise verwechselbar, dass es sehr schnell müßig wird, sie voneinander trennen zu wollen, sich zu jedem Kapitel das entsprechende Gesicht, die passende Biografie vorzustellen. Jeder könnte jede sein, jede jeder, kein „Soziolekt“, keine individuelle Eigenart füttert den unweigerlichen Film in unseren Köpfen mit Akteuren, es sind Fragezeichen, die durch die Szenen wandeln, sie stehen offenbar für etwas anderes, das nur auf den ersten Blick etwas „Abstraktes“ ist. Der zweite Blick verrät, dass sich hinter dieser Vagheit, diesen gestrichelten Existenzen etwas sehr Konkretes verbirgt, im besten Falle der Leser, die Leserin selbst, aber immer ein Zustand, der nicht an konkretes Personal gebunden ist.

Das muss man nicht mögen, nicht einmal erkennen muss man das. Es muss auch keineswegs gelungen sein, so wie die entgegengesetzte Methode bei den Marlowes, den Sergeants, den Studers nicht per se das ergibt, was wir „große Literatur“ nennen. Aber man sollte die Möglichkeit an sich im Auge behalten, die Möglichkeit, dass es ein zwar seltenes, ein von Leserschaft wie Kritikern gleichermaßen wenig geliebtes, aber doch ein legitimes Verfahren ist, das Personencasting für einen Text nicht „naturalistisch-realistisch“ zu organisieren. In der Literatur ist prinzipiell alles möglich, sogar im Kriminalroman, Romane sind, nebenbei, auch keine Filme.

Ein Gedanke zu „Schreiben ist nicht Fotografieren“

  1. aber auch unabhängig von einem ästhetischen Konzept ist das enge, gerahmte Charakterbild in einem Roman doch ärgerlich – und eine Lüge. Wäre es nur „naturalistisch-realistisch“ – kein Problem. Aber das ist es meiner Meinung nach nicht. Ich erinnere mich an die Verstörung als Kind beim Lesen von Unterhaltungsliteratur für Erwachsene. Jede Figur, mochte sie noch so unwichtg sein, wurde durch die felsenfesten Charakterzüge buchstäblich zum (unwahrhaftigen) Helden. Denn welcher normale Mensch kann von sich behaupten, zu sein, was er ist? Lawrence Durrell erklärt es recht gut, indem er in „Livia“ einen Schriftsteller mit dessen Romanfigur, einem Schriftsteller, parlieren lässt: „Was mich immer beschäftigte, war die Frage eines stabilen Egos – gab es so etwas überhaupt? Die alte Vorstellung von diesem Unikum war eher primitiv, besonders bei Schriftstellern, die es juckte, diese oder jene Handlung zu erklären. Ich persönlich kann kaum den Namen einer Romangestalt hinschreiben, ohne plötzlich von einem Ozean möglicher Attribute überschwemmt zu werden, ein jedes so zutreffend und wahr wie das andere. Die menschliche Psyche ist fast unendlich variabel – so variabel, dass sie es sich erlauben kann, widersprüchlich zu sein, sogar im Hinblick auf sich selbst. Wie armselig ist doch die klägliche kleine Typologie unserer modernen Psychologie – ja, sogar die Astrologie, wie suspekt sie als Wissenschaft auch sein mag, macht zumindest den Versuch, die unendliche Vielfalt rein menschlicher Attribute einzubeziehen. Und das ist der Grund, warum unsere Romane, Ihre und meine, Robin, auch so armselig sind.“

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