(Teil I: →Vorspiel(en) auf dem Theater)
Clash of Cultures?
Das noch immer dominierende, von einer erdrückenden Mehrheit der AutorInnen und LeserInnen bevorzugte Grundmuster der Kriminalliteratur basiert auf gesellschaftspolitischen Parametern des 19. Jahrhunderts. Es berücksichtigt die Ängste und Hoffnungen jener Zeit ebenso wie ihre privaten Bedürfnisse, verbindet die Unsicherheit (mystery) mit dem Fortschrittsglauben (detection) und der katalysatorischen Funktion (thrill). Bis dieses Fundament gegossen war, mussten Kanten abgeschliffen, Unebenheiten geglättet und ästhetische Makel eliminiert werden. Ein wirklicher Bezug zur Lebenswelt der Leserschaft, die Anwesenheit von Problemen ohne Lösung, eine wie auch immer ausfallende Referenz an Herrschaftsverhältnisse – all da wurde nach und nach entfernt, was aber „das Politische“ nicht tilgte, sondern es nur umpolte. WEIL der Krimi nicht politisch sein durfte, war er es um so mehr. Zurück blieb der Häkelkrimi, blieb Mord um seiner selbst willen, ein anonymes Stellvertreterobjekt zur Trieb- und Aggressionsabfuhr, ein Sedativum.
Die Kriminalliteratur von Conan Doyle bis zu den Ladies des Golden Age hatte also eine Gegenwelt als Rückzugsraum etabliert, einen Raum, in dem der Schmutz genauso klinisch sauber war wie das dramaturgische Besteck, mit dem man ihn portionierte und einflößte. Was nun nicht überraschen kann, denn genau darin besteht die Funktion des Trivialen und sie ist legitim. Doch dieses ästhetisch bis auf die Knochen abgenagte Programm wird immer auch zum Anlass, einen Paradigmenwechsel zu vollziehen, beileibe nicht nur in der Kriminalliteratur. Auch die sogenannte „höhere“ wird zwangsläufig und im Wortsinn von „allgemein bekannt“ trivial, sobald etwa Büchners „Woyzeck“ in wohlfeiler Liebhaberausgabe in der Bibliothek herumsteht. Nicht dass hier etwas zum bildungsbürgerlichen Mainstream wird, bedingt diese Trivialität. Sie ist vielmehr dem Teufelskreis geschuldet, ohne den Literatur undenkbar wäre oder schlicht nichts weiter als eine längere, aus Wörtern geknüpfte Kette, an der man das Mantra der Selbstvergewisserung abbeten kann. Ich lese, was ich eh schon weiß – und weil ich es schon weiß, bestätigt es mich in meiner Meinung. So betrachtet, ist Trivialisierung das natürliche Schicksal jeglicher Literatur – und die Quelle ihrer notwendigen Erneuerung zugleich.
Wieder könnte ein Querverweis zum „politischen Kabarett“ hilfreich sein. Der triviale Kabarettist, eigentlich ein verkappter Comedian, wird politische Ereignisse der Pointe unterordnen. Für ihn ist etwa die gegenwärtige Griechenlandkrise ein Vehikel für den Witz („Wenn die Griechen ihre Inseln verkaufen, nehme ich Lesbos, aber nur, wenn da gerade ein feministischer Kongress stattfindet.“) und kein Gelegenheit, über spekulative Finanzpolitik aufzuklären. Aber selbst wenn er dies tut, bewegt er sich in Konsens seiner Zuhörer, er spricht die Sprache, die sie von ihm erwarten, sein wahrhaftiges Publikum besteht also aus denen, für die diese Sprache NEU ist. Für alle anderen ist der Vortrag ritualisiert, auf ihre Bedürfnisse heruntergebrochen, das Irritierende formalisiert. Das hat insofern Auswirkungen auf das „Politische“, als es, in Kunst verpackt, immer die Aufforderung zur Veränderung impliziert. Natürlich kann etwas auch politisch sein, indem es meine Weltanschauung stützt, immer wieder repetiert, was faul ist im Staate. Letztlich jedoch verbleibt es auf dem Niveau des der Trivialliteratur zugewiesenen Eskapistischen, inszeniert eine Gegenwelt, das Adorno’sche „Richtige im Falschen“.
Nun können wir daran wenig ändern und nicht erwarten, jeder neue Autor, dessen Bücher wir lesen, jeder Kabarettist, dem wir zuhören, erfinde das Rad seiner Kunst neu. Wir haben den Extremfall formuliert, den Beginn dessen, was in der Kriminalliteratur – die, nebenbei, sich mit dem Neuen naturgemäß schwertut, aber dazu kommen wir noch – immer wieder zu beobachten ist, wenn auch vielleicht niemals so deutlich wie beim ersten großen Paradigmenwechsel, als Hardboiled / Noir gegen den häkelseligen Whodunnit opponierten. Dazu mehr in Teil 3. Halten wir als Zwischenfazit folgendes fest: Weder die Form noch der Inhalt bestimmt den Grad des Politischen, es ist die Wirkung, die Art und Weise der Rezeption, die ihn definiert. Und: Das Schablonisierte ist nicht der Feind des „Unkonventionellen“, sondern lediglich ein anderer, späterer Aggregatzustand desselben. Der offenbare Clash of Cultures entpuppt sich als Generationenkonflikt, als ein in der Evolution von Kunst allgemein konstitutiv wirkender Akt. Das merken wir spätestens, als sich der hartgekochte Dreck der Wirklichkeit in die Weicheiwelt der englischen Landhäuser vorwagt.
„Weder die Form noch der Inhalt bestimmt den Grad des Politischen, es ist die Wirkung, die Art und Weise der Rezeption, die ihn definiert.“
Das finde ich auch und würde es ergänzen: Es ist auch die Art und Weise der Produktion. „Politischer Roman“ oder „Politischer Krimi“ sind schreckliche Begriffe. Zumindest ich würde sie nie in den Mund nehmen. Es kann aber sein, dass ein Autor etwas Politisches im Sinn hat (ohne sein Werk „politisch“ zu nennen). Wenn dem so ist, unterscheidet sich sein Stück schonmal vom „guten Roman“, von der „guten Schreibe“. Diese „guten“ Bücher, dies merkt man im Laufe der Zeit, sind niemals die wirklich guten Bücher. Niemand käme z.B. auf die Idee, die Werke von Flaubert, Proust und Co. als „gute Bücher“ zu bezeichnen – von Autoren, die „gut schreiben“ können. Hat nun aber jemand etwas Politisches im Sinn, finde ich aufgrund eigener Erfahrung interessant: „Politisch“ folgt zumindest nicht mehr dem Diktat des „Guten“. Wer ernsthaft eine gesellschaftliche Botschaft hat, denkt nicht mehr in erster Linie daran, dem Leser zu gefallen, Auflage zu schinden, geliebt zu werden etc. Er denkt womöglich nicht einmal daran, sich allgemeinen ästhetischen Gesichtspunkten unterzuordnen. Weil er schlicht nicht an sie denkt und ein anderes Interesse hat. So würde das Politische tatsächlich zur einer existenziellen Kategorie für den Schreibenden.
Die Formulierung von den „guten Büchern“ gehört tatsächlich zu den großen Gedankenlosigkeiten der Rezeption, etwa so hilfreich wie „gute Erdbeermarmelade“. Genauso wenig gibt es einen „literarischen Stil“, „gutes Deutsch“ etc. Ich kann als Autor selbstverständlich eine politische Absicht mit meiner Arbeit verbinden, nur dass es sich mit der kaum anders verhält als mit anderen „guten“ Absichten. Als Botschaften sind sie in der Literatur schlicht überflüssig, als reiner Kopfnick- oder Kopfschüttelstoff. Wer etwa Dominique Manotti liest, wird eben NICHT in irgendeinem ideologischen Sinne informiert oder gar belehrt. Sie versucht, die Dinge in ihrer Komplexität zu zeichnen – und da ist eben diese schlichte Dichotomie der Ausbeuter / Ausgebeuteten das erste, was auf der Strecke bleibt. Die Dinge sind wesentlich komplizierter, das weiß Manotti. Wenn das bei der Rezeption rüberkommt, hat sie ihr Ziel erreicht. Sie hat uns im besten Sinne aufgeklärt, d.h. in die Lage versetzt, einen Gegenstand anders zu betrachten als bislang. Das allein ist „politisch“, weil es etwas verändert hat.