Einen, gelinde ausgedrückt, leichten Zweifel an der nüchternen Logik erkennt man schon, wenn man die neuere Kriminalliteratur Revue passieren lässt. Sandro Veronesi, Fred Vargas sowieso, Christine Lehmann, Stefan Kiesbye… Mythisches, Parapsychologisches, Schicksal und Zufall, die höheren Mächte im Widerstreit mit dem Intellekt. Dabei: Mit Weltflucht und einer Verfantasyierung des Genres hat das überhaupt nichts zu tun, eher im Gegenteil. Ganz profan gesprochen, scheint sich eine gewisse Deduktionsmüdigkeit breitzumachen, der branchenübliche Hang zur vollständigen Erklärung wird zum Fluch oder, ins Konstruktive umgesetzt, die Möglichkeiten des Nichteindeutigen öffnen Einfallstore in die Imagination der Leser. Dürfte wohl dem Herrn aus der Bakerstreet 221 B nicht gefallen, wie gut also, dass er Sara Grans „Die Stadt der Toten“ nicht mehr zur Kenntnis nehmen musste.
Wir treffen Claire DeWitt. Anfang 40, Detektivin aus Leidenschaft, nein, „die beste Detektivin der Welt“. Was sie beweisen muss, denn sie hat einen kniffligen Fall übernommen. Der Staatsanwalt Vic Willing ist in den Wirren des Hurrikans Katrina vom Sommer 2005 und der folgenden Hochwasserkatastrophe spurlos verschwunden, sein Neffe macht sich Sorgen. Dass er dies knapp anderthalb Jahre nach dem Ereignis tut, irritiert. Aber Katrina hat seine Spuren hinterlassen. Die Stadt, eh eine Kapitale des Verbrechens, befindet sich noch immer im Ausnahmezustand, das Verbrechen regiert munter weiter, Jugendbanden betreiben ihr Straßengeschäft. Genau in diese Welt juveniler Kriminalität verschlägt es Claire bei ihrer Suche nach Willing.
Das mag jetzt klingen wie bodenständige US-Spannungslektüre und wäre es auch, wenn man die Geschichte kurzerhand „auf den Fall“ reduzierte, auf das übliche Trial and Error also. Aber wir befinden uns in New Orleans und mithin dort, wo Mythen und Zauberei blühen, der Karneval ohne Luftschlangen auskommt und die Toten weiterleben. Bodenständig wäre es nun, uns genau dieses mythenschwangere New Orleans zu beschreiben, doch Gran geht überraschend anders vor. Sie baut ihre eigene Mythologie und es ist die der Kriminalliteratur selbst.
Schon DeWitts Leib- und Magenbuch ist ein solcher Mythos. „Détection“ heißt das sagenumwobene Werk, Jacques Silette sein Verfasser. Eine Art Handbuch für Detektive mit Erkenntnissen wie „Wenn ein Mensch verschwindet, muss ein Detektiv beachten, was dieser Mensch beim Verschwinden mit sich genommen hat – nicht nur die materiellen Dinge, sondern alles, was mit ins Schattenreich gegangen ist und nun fehlt: ungesagte Worte und anderes, das ohne diesen Menschen nicht mehr existiert.“ Ein Antihandbuch eher, das Claire durch ihre Chefin und Lehrmeisterin kennengelernt hat. Doch die ist ermordet worden. Auch eine gute Freundin aus Teenagerzeiten ist nicht mehr. Einfach so verschwunden, keine Spur. Geblieben sind die Erinnerungen an große Detektive und große Fälle, die Mythen der Branche also. Dieses Muster zieht sich durch den gesamten Roman. Er handelt vom Verschwinden, vom Tod, vom Weiterleben in Mythen, womit nach und nach das Gerüst des Krimis konstruiert und in mancher Persiflage auch gleich wieder dekonstruiert wird. Sehr schön etwa, als Claire aus einigen alltäglichen Kleinigkeiten die komplette Biografie eines jugendlichen Straftäters deduziert – besser war Sherlock nie und nie lächerlicher diese Geste der Allwissenheit.
Claire DeWitt, kein Zweifel, bewegt sich durch eine hochgeraunte Kulisse mit allerlei Branchenmythologien, in der Schnödigkeiten wie die Wirklichkeit keinen Platz mehr zu haben scheinen. Man assoziiert unwillkürlich Jerome Charyn, auch so ein Mythologe, der dennoch nicht jenseits des Wirklichen agiert, sondern ihr lediglich einen anderen Kontext verpasst. Das tut Gran auch. Die verwahrloste Gesellschaft mit ihren eigenen Regeln ist allgegenwärtig, Hautfarbe und soziales Herkommen sind allemal wichtiger als Charakter und Leistung, was ja auch wieder einen „logischen Mythos“ dekonstruiert und durch ein anderes Regelwerk ersetzt, bei dem Zufälle, äußere Umstände und das vielbeschworene Schicksal die Hauptrollen spielen. Gran verwandelt also die neuen Mythen dieser Welt, deren Wahrheiten kein Detektiv nach Sherlock-Holmes-Methode ergründen kann, in die Mythen des Kriminalromans und erlaubt von diesen den Schritt zurück in die Wirklichkeit. Wozu auch gehört, dass Gut und Böse nicht mehr als Werte existieren (und also folgerichtig zu analysieren wären), sondern allein den Umständen geschuldet sind. Man will das Schicksal, dass du böse bist, manchmal zwingt es dich zum Gutsein. Das eher konventionelle Ende des Romans schlägt genau in diese Kerbe.
Grans Strategie hat dramaturgische Auswirkungen. Die Geschichte wird nicht stringent erzählt, der Plot gerät bisweilen aus dem Blick, Konstruktion und Dekonstruktion wechseln sich ebenso ab wie herkömmliche und eher unkonventionelle Ermittlungsmethoden. DeWitt deduziert und induziert, sie schließt vom Allgemeinen auf das Besondere und vom Besonderen auf das Allgemeine, womit sie nur konsequent auf die Schwäche jeder detektivischen Logik hinweist, auf den Irrglauben, das eine ließe sich sauber vom anderen trennen. In Wirklichkeit ist eben diese Wirklichkeit ein Zirkelschluss, eine Scharade in kommunizierenden Röhren, eine Veranstaltung des Subjekts, das gerne Objekt sein möchte.
Ein merkwürdiges Buch also, ein starker Text. Und natürlich ist Claire DeWitt die beste Detektin der Welt, weil sie sie als einzige versteht.
Sara Gran: Die Stadt der Toten.
Droemer 2012. 361 Seiten. 14,99 €
(Claire DeWitt and the City of the Dead. 2011. Deutsch von Eva Bonné)
Das hört sich nach einem sehr interessanten Buch an. Besonders nachdem ich nun mehrere Kritiken gelesen habe, welche in den meisten Fällen immer zwielichtiger Meinung waren, so ist doch eine mehrheitliche Sympathie wiederzufinden. Besonders die Rezension von lettra.tv, war sehr beflügelnd und inspirierend 🙂