Sportschuhe? Müssen IMMER drei Streifen haben! Gute Musik? Darf NUR „handgemacht“ sein! Ein Krimi? Muss AUSSCHLIESSLICH im Hier und jetzt spielen!
Willkommen in der Welt der Slogans und Scheuklappen, der Vorurteile und der nachgeplapperten eindimensionialen Weisheiten. Selbst wer sich nicht vorstellen könnte, ein Buch zu schreiben, fände doch, ginge es um die Dummheit der Gemeinplätze, Material genug für einen dicken Wälzer. Gustave Flaubert, der Romane schreiben konnte, hat es bei einem schmalen Bändchen belassen.
Sein „Wörterbuch der gemeinen Phrasen“ ist keine Sammlung scharfzüngig-lichter Definitionen wie etwa das „teuflische Wörterbuch“ von Ambrose Bierce oder gar Sammlung eleganter Aphorismen à la Oscar Wilde. Vielmehr hat Flaubert die Gemeinplätze seiner Zeit zusammengetragen, die eingeschliffenen und hohlen Parameter einer kollektiven Weltsicht, sämtlich Extrakte, in denen sich das Bild dieser Gesellschaft, dieser Zeit bewahrt hat, als das Bild einer von kreischenden Papageien bevölkerten Welt.
Dabei, Achtung!, erwartet uns keine leichte Häppchenlektüre, kein Betthupferl, keine Witzesammlung.
„Hängematte: Besonderheit der Kreolen“
Wie bitte? Da bedarf es schon einer Fußnote in diesem von Hans-Horst Henschen vorbildlich herausgegebenen, übersetzten und annotierten Buch, um die kryptische Definition auf den Boden der Zeit zu stellen (Napoleons Frau war kreolischer Abstammung).
Anderes hingegen ist zeitlos, etwa wenn unter dem Stichwort „Phantasie“ verzeichnet steht:
„Immer ‚lebhaft’ … Man beargwöhne sie … Wenn man selbst keine hat, mache man sie bei anderen herunter … Um Romane zu schreiben, braucht man nichts weiter als einen Funken Phantasie.“
Hier sehen wir sie vor uns, die Alt- und Halbklugen beim smalltalk, wenn es über Dinge von allgemeiner Bedeutung zu reden gilt, von denen man keine Ahnung hat, über die aber geredet werden muss. Da war nicht nur in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts so, als Flauberts „Wörterbuch“ hauptsächlich entstand, solche Gestalten werden uns heute immer noch dargeboten, ja, millionenfach geklont via Mattscheibe wie geistiger Ramsch feilgeboten.
Was wir hier vorfinden, sind Indizien – und somit wären wir, wie es der gestrenge Lehrplan der staatlich geförderten Crime School nun einmal vorsieht, doch beim Krimi – oder nein, noch nicht, sondern erst beim Roman, der keiner ist, aber im Kopf des Lesers einer werden kann, wenn er sich der süßen Mühe unterzieht, die Indizien des Gustave Flaubert denen in den Mund zurück zu legen, die sie einst in den Salons und Cafes, auf den Straßen und Rednertribünen in die Welt geschickt haben.
Man kann das kreuz und quer lesen – es funktioniert. Und ich frage mich – vielleicht, nein, ganz sicher – etwas tollkühn, ob nicht auch ein Krimi so entstehen könnte? Als Wörterbuch?
Bevor man mich belächelt: Dieser Gedanke, dass das Bild einer Gesellschaft quasi en passant gezeichnet wird, aus nicht zwangsläufig chronologischen snapshots zusammengefügt, als Gedankenarbeit des Lesers und kreativer Beitrag, den man einem Buch schuldet, dieser Gedanke ist Gegenstand der nächsten Lektion. Und natürlich ist es Zufall, dass mir Flauberts Papageien da aus heiterem Himmel entgegengeflogen kommen und, an diesen Gedanken knüpfend, mich auf ganz andere Gedanken bringen.
Also ist es möglich? Dem bleiben wir auf der Spur, und das wollte ich hier außer der Reihe nur einmal kurz gesagt haben, damit auch die Schüler eine Ahnung davon kriegen, wie verzwackt es manchmal im Gehirn eines Lehrkörpers zugehen kann. It’s no easy life, indeed.
Gustave Flaubert: Wörterbuch der gemeinen Phrasen. Eichborn 2005, 215 S., 16,90 €