Nein, schon klar, musste so kommen. Wir debattieren über „politische Krimis“ und scheitern an der Definition von „politisch“. Das heißt: Wir scheitern nicht daran, wir erkennen nur so langsam, dass die Handlichkeit eines Begriffes bereits politisch sein kann, weil sie in ihrer Vagheit nur vorgefertige Definitionen erlaubt, uns das Denken abnehmen möchte beziehungsweise davor zurückschrecken lässt, mit dem Selbstdenken anzufangen. Aber nicht mit uns! Was also ist „politisch“, auf unseren Gegenstand, den Krimi bezogen? Hier der spontane und keineswegs vollständig elaborierte Versuch, die Grenzen des Politischen zu ziehen. Kann, darf, sollte ergänzt, kommentiert, kritisiert werden.
Politische Krimis handeln
- von den „Haupt- und Staatsaktionen“ der politischen Klasse und generell der „Mächtigen“. Sie beschäftigen sich mit Intrigen/Korruption ebenso wie mit Spionage und diplomatischer Ränke, beleuchten die inneren Strukturen der Machtapparate und –mechanismen, decken die Verquickungen zwischen einzelnen Interessengruppen auf
- von den Auswirkungen politischen Machtgebrauchs/-missbrauchs (siehe oben) auf einzelne Bevölkerungsgruppen und/oder Individuen
- von allgemeinen sozialen/gesellschaftlichen Missständen oder Defiziten, was gerade beim Krimi schon dadurch geschehen kann, dass man diese gesellschaftlichen Defizite als solche des Genres wahrnimmt und konterkariert. Beispiel: Wer die Rolle der Frau in der Gesellschaft in Kriminalromanen wiederfindet, kann eine weibliche Protagonistin einsetzen, die sich gegen Rollenkonformitäten verhält. Siehe Sara Paretsky u.a.
- vom Zustand des Rechts an sich, seiner Auslegung und Umsetzung, von der Unvereinbarkeit von Recht und Gerechtigkeit, seiner Pseudo-Objektivität usw.
- vom Alltag der Menschen als Objekte ihrer Verhältnisse. Sie beschreiben diese Verhältnisse, sie kommentieren nicht die Gründe, warum die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Das überlassen sie den LeserInnen
- von den LeserInnen. Politische Krimis haben den Anspruch, das Denken und Handeln der LeserInnen zu aktivieren, zu verändern. Politisch ist vor allem, wenn man liebgewordene Gewohnheiten und Ansichten in Frage stellt, über sie nachdenkt.
So, mehr nicht vorläufig, alles ganz grob umrissen. Auch keine konkreten Beispiele, da warte ich gerne die Kommentare der Mitleserschaft und Diskutanten ab.
Wenn ich von einem politischen Roman sprechen würde, dann nicht weil er literaturwissenschaftliche Kriterien erfüllt (oder, noch schöner, die der Verlage), sondern weil er nach meinem Eindruck von der politischen Ambition des Autors, seiner Empörung und seinem Wissen durchdrungen ist. Weil er wegen dieser authentischen Kraft die Realität beleuchtet und auch auf sie wirken kann. Ob er mir die Augen öffnet oder nur schildert, was ich schon weiß, wäre dabei egal. Aber: Der beste politische Krimi müsste so gut sein, dass man ihn nie als politischen Krimi bezeichnen würde. Vor vielen Jahren habe ich Straße ohne Wiederkehr von David Goodis gelesen. Es ist die Geschichte eines romantischen Anti-Helden ebenso wie die von sozialen Unruhen, korrupten Beamten, Armut und Gewalt. Es hat mich sehr beeindruckt wie dramatisch „das Politische“ und das private Schicksal hier Hand in Hand gehen und Spannung erzeugen. Es ist ein Roman, ein Krimi, der alle Lebensbereiche, um die er sich kümmert, derart prall beschreibt, dass man neben dem „Politischen“ ein halbes Dutzend weitere Genres bemühen könnte. Deshalb glaube ich nicht an den „politischen Krimi.“
Es ist immer schlecht, wenn ein Roman genau dem entspricht, was sein Etikett ver-spricht. Aber ich denke, dass bereits die bisherige Diskussion dieses Stigma des „Politischen“ relativiert hat, dass auch die naheliegende Einordnung als „Subgenre“ in die Irre führt. Das Politische findet sich überall – und ist doch, im besten Fall, nirgendwo dominant und aufdringlich. Das gilt für die Sjöwall/Wahlöö-Krimis (dazu hoffentlich in den nächsten Tagen mehr) ebenso wie für die von Dominique Manotti, die natürlich unter dem Label „politischer Krimi“ vermarktet werden, aber weitaus vielschichtiger sind. Was unter anderem an der schon bei Temme festgestellten Durchdringung der einzelnen Ebenen liegt, die, vereinfacht gesagt, von der Individualpsychologie über die gesellschaftliche Alltagsinteraktion bis zu den „großen Zusammenhängen des Politischen“ reichen.
bye
dpr