Es ist dünnes Eis, auf dem wir wandeln. Darunter brodelt Magma, unter der Erdkruste wie unter dem Zivilisationsüberzug, und jeden Moment drohen wir einzubrechen, unser bisschen Zivilisiertheit verdampft im Triebhaften, das angelernte Gute löst sich im archaisch Bösen auf. So jedenfalls sagt es ein Gemeinplatz der philosophischen Psychologie, davon handelt Kriminalliteratur generell. Von dieser hauchdünnen Distanz zwischen Kultur und Natur, Gutbürgerlichkeit und Verbrechen.
Gleich zwei Romane, Klassiker der Spannungsliteratur und Belegstücke dieser Theorie, sind nun binnen Monatsfrist neu aufgelegt worden, James Dickeys Flussfahrt (Seeling Verlag) und Jagdzeit von David Osborn (Pendragon Verlag) . Man kann ein drittes Werk, 2009 wiederveröffentlicht und nicht weniger klassisch, hinzunehmen, Geoffrey Households Einzelgänger, männlich (Verlag Kein und Aber), denn auch darin erleben wir, wie das Eis der domestizierten Triebe schmilzt und der Mensch zu dem wird, was er normalerweise zu verbergen sucht: ein seiner Natur nach unberechenbares, regelloses und höchst egoistisches Wesen.
Bei aller Verschiedenheit der Ausarbeitung liegt diesen Texten ein gemeinsames Muster zugrunde. Sie operieren mit den Metaphern von Jägern und Gejagten, verpflanzen ihr Personal unvorbereitet in eine landschaftliche Wildnis, wo sie sich behaupten und den archaischen Gesetzmäßigkeiten der Natur anpassen müssen oder zugrunde gehen. Nach und nach verliert sich so auch noch der letzte Rest Moral, der Übergang von verstandeslastigem Menschen zur ums nackte Überleben kämpfenden Kreatur ist fließend. Was aber so nach außen gebracht und als Kontrast von städtischer Zivilisation und ländlicher Archaik beschrieben wird, ist in Wirklichkeit ein innerer Konflikt, der psychisches Befinden verdeutlicht. Die Killer in Osbornes Jagdzeit schalten zwischen bürgerlichem Funktionieren und animalischer Beutegier anscheinend souverän und im bewussten Besitz ihrer zivilisatorischen Errungenschaften hin und her. Dickeys Flussfahrt macht das Triebhafte zu einem Bestandteil des Rationalen, es begründet logisch, warum man töten muss. Bei Household nun wird der Gejagte ebenso notwendigerweise zum Jäger, er muss es, um zu überleben. Diese Verwandlung vom Gejagten zum Jäger und umgekehrt zerbricht das gängige Schema der strikten Trennung von Gut und Böse – und ist nicht nur eine psychologischer, sondern darüber hinaus auch ein politischer Befund.
Die Texte von Dickey und Osborn entstanden nicht zufällig 1970. Sie waren eine Reaktion auf die weltpolitisch-ideologische Lage, insbesondere auf den Vietnamkrieg, der genau dieses Grundmuster des Krimis in seiner schmutzigen Praxis vorführte. Flächenbombardements mit Napalm bedeuteten eben nicht, die dünne Schicht der Zivilisation (das Gute) sei über dem Inferno (dem Bösen) zerbrochen. Sie waren Teile dieser Zivilisation. Households Buch, 1939 erschienen, reflektierte die diktatorischen Verhältnisse schlechthin, Hitlerei und Stalinismus, aber auch die sogenannten Demokratien, hinter denen ebenfalls Mechanismen der Unterdrückung und subtilen Repression steckten.
Die daraus zu ziehenden Schlüsse sind in allen drei Romanen beunruhigend. Unsere Vorstellung von der dünnen Zivilisationsschicht über der latenten Triebhaftigkeit ist eine romantische Verbrämung. Sie suggeriert nämlich Beherrschbarkeit, eine zumindest versuchte Überwindung des Bösen. Doch sowohl Dickey als auch Osborn und Household wissen es besser: Die Zivilisation regiert auch in der instinktbeherrschten Wildnis unseres Ichs und dieses wiederum manipuliert unser moralisch-bürgerliches Regelwerk.
Neu ist das nicht, sondern vielmehr ein Archetypus von Verbrechens- und Kriminalliteratur, nachzuweisen bei den griechischen Tragöden, bei Schiller und Kleist, bei Georges Simenon, der Bürgerlichkeit immer als eine Grundbedingung von triebhaftem Animalismus identifizierte und Dashiell Hammett, der diese Definition umkehrte.
Ausführliche Besprechungen der Bücher von Dickey und Osborn folgen, zu Household gibt es sie bereits →hier.
dpr