Michael Gruber: Das Totenfeld

Großartiges Buch. Wohl hat man es während der Lektüre mehrmals gegen die Wand geworfen. Ist aber immer wieder reumütig aufgestanden, hat es aufgehoben, abgestaubt und weitergelesen.
Tatort Miami. Der sudanesische Erdölhändler Jassir al-Muwalid stürzt aus dem Fenster eines Hotels in die Eisenspitzen eines Zauns. Im Zimmer des Toten findet Ermittler Jimmy Paz die junge Emmylou Dideroff vor, vieles deutet auf sie als Täterin hin, doch sie selbst scheint geistig verwirrt und hat Heiligenerscheinungen. Auch die Psychologin Lorna Wise, die Emmylous Geisteszustand untersuchen soll, wird mehr in den Fall verwickelt, als ihr lieb ist. Während Paz allmählich an der Schuld Dideroffs zweifelt, geheimdienstlichen Aktivitäten auf die Spur kommt und selbst ins Visier höherer Mächte gerät, schreibt die komische Heilige Emmylou ihren ebenso ausführlichen wie bizarren Lebenslauf.

Gruber entwickelt seine Geschichte alternierend aus den Perspektiven der drei ProtagonistInen. Ein übliches Verfahren, doch kultiviert Gruber diese Technik mit dem nötigen Respekt vor ihren Möglichkeiten. Jede der drei Sichtweisen hat ihre eigene Sprache. Paz, eine unausgegorene Mischung aus Macho und Muttersöhnchen, wird uns mit seinem Tun und Denken in der Vergangenheitsform geschildert, Wise, wissenschaftsgläubig und hypochondrisch, dagegen im direkten Präsens. Beide in der 3. Person Singular, nur Emmylou Dideroff, die ja ihr Leben aufschreibt, redet als „Ich“. Das ergibt drei Sprachebenen, die sich, je verwickelter die Geschichte wird, als äußerst hilfreich erweisen, denn jede von ihnen charakterisiert die Personen über das Mitgeteilte hinaus und relativiert gleichzeitig diese Informationen.

Besonders wichtig wird dies bei Emmylous Geschichte. Sie ist – und hier wird das Buch erstmals gegen die Wand geworfen – völlig unglaubwürdig und so abgehoben, dass es fast schon harmlos wirkt. Wir erfahren Schreckliches aus ihrer Jugend (der vergewaltigende Stiefvater, die lieblose Mutter, der kleindealende Freund, das bigotte Kleinstadtmilieu), werden Zeugen quasi im Vorübergehen verübter Verbrechen Emmylous, begleiten sie in eine obskure Siedlung amerikanischer Nazis und Waffenhändler, auf den Babystrich, schließlich in die Obhut der „Gemeinschaft der Schwestern vom Blute Christi“, eines im 19. Jahrhundert in Frankreich gegründeten Nonnenordens, der seine Mitglieder in die Kriegsgebiete schickt und daher große Opfer in Kauf nehmen muss. Jedem Kapitel des Romans ist ein Ausschnitt aus der Geschichte dieses Ordens vorangestellt.

Langsam erhellt sich aus Emmylous Erinnerungen ihr Verhältnis zum getöteten Sudanesen. Die Nonne machte im Sudan eine vom Militär terrorisierte ethnische Minderheit wehrhaft und zog mit ihr erfolgreich in den Krieg gegen die Peiniger. Dass sie dabei Kenntnis von riesigen Erdölvorkommen erhielt, rückte sie in den Fokus des zwielichtigen und brutalen al-Muwalid. Er nahm sie gefangen, folterte sie, doch Emmylou konnte fliehen – und in Miami trifft man sich wieder.

Auch diese Schilderungen erscheinen zunächst ärgerlich, weil völlig überzogen. Emmylous Kampf gegen das sudanesische Militär wird wie eine heiliger, von übernatürlichen Kräften initiierter Kreuzzug geschildert, fast glaubt man die englischen Posaunen zu hören, das Ganze kippt bedenklich in Richtung billige Groteske. Noch mal an die Wand, den Schmarren.

Auch die Geschichte von Paz und Wise, die sich im Verlauf der Handlung näherkommen, wendet sich bedenklich ins Spirituelle. Voodoo und andere karibische Zaubertricks werden ausgiebig geschildert, für die Handlung, scheint es, ohne Belang. Die steuert zielstrebig zum großen Showdown und ins zuckersüße Happyend.

Doch man wirft das Buch schon längst nicht mehr gegen die Wand. Die penetrant über die Schrecken der Wirklichkeit geworfenen Trosttücher aus Religion und Aberglauben machen Sinn, sie verdecken wohl die Einzelheiten des Grauens, konturieren es aber dafür umso mehr in seiner Gesamtheit. Die Wirklichkeit, sagt uns Gruber, ist so unerträglich, dass man sie auf Gut und Böse reduzieren muss. Religion tut genau das. Sie lässt uns überleben, indem sie die Realität ins Überschau- und Erklärbare, eben ins Harmlose verzerrt.

„Das Totenfeld“ ist ein spannender, sprachlich und kompositorisch erheblich über dem Durchschnitt rangierender Roman, der nicht vereinfacht, aber aufzeigt, wie abhängig wir von simplen Strickmustern des Welterklärens sind. Am Ende ist alles Illusion, so wie das windelweiche Glück von Paz und Wise. Das ist nicht tröstlich. Es ist ein lächerlicher und existentieller Kampf gegen die Verzweiflung.

Michael Gruber: Das Totenfeld. 
Zsolnay 2007 (Original: „Valley of Bones“, 2005, deutsch von Silvia Morawetz).
557 Seiten. 24,90 €

6 Gedanken zu „Michael Gruber: Das Totenfeld“

  1. So ging’s mir auch. Ich war allerdings noch viel enttäuschter, weil ich den Vorgängerroman so toll fand. Und fand das Buch zwar kompositorisch über dem Durchschnitt, aber inhaltlich misslungen. Vor allem der Schluss läppert dann so hin…

  2. Aber gerade dieses Dahinläppern, lieber Dschordsch, macht Sinn. Das Buch spielt gekonnt mit dem, was die „kritische Leserschaft“ von ihm erwartet, am Ende ist es wirklich nur dieser Kampf Gut gegen Böse, Gut gewinnt irgendwie, aber nicht richtig, aus allen Poren tropft süßer Sirup – aber genau das ist das Thema. Die Verharmlosung, s/w-Konturierung der Wirklichkeit als letztes Mittel, sie zu ertragen. Religion eben.

    bye
    dpr

  3. Ich weiß nicht, ich weiß nicht… Gut und Böse funktionieren ja gerade in diesem Krimi nicht. Die gute Nonne als militärische Aufrüsterin?

    Und du bist dir hoffentlich im Klaren, dass dein Begriff von Religion etwas eingeschränkt ist. Mystik z.B., und die scheint mir der innere Kern von Religion zu sein, den nur wenige sehen, erfahren, erleben, scheinst du völlig auszuklammern. Denn da gibt es keine s-w-Konturierung der Wirklichkeit, im Gegenteil. Siehe Franziskus.

    Du meinst die organisierte Religion, den Machtfaktor, die Massenreligion, die Amtskirchen. Oder?

  4. Sie funktionieren durchaus im erwähnten Sinn. Emmylous Nonnenkrieg ist die dezidiert gute Tat, weil sie in diesen mystisch-religiösen Nebeln daherkommt. Das hat nichts mit unserer davon abweichenden Interpretation zu tun. Stell dir vor, dieses Element würde fehlen und Gruber uns den Krieg im Sudan so entsetzlich schildern, wie er nun mal ist. Die Überhöhung erst macht ihn erträglich (nicht umsonst wird Emmylou als ein Mensch geschildert, der beliebig Schmerzen ertragen kann). Wir sähen dann wohl „die Wirklichkeit“, aber eben nicht „die Wirklichkeit unter den Trosttüchern“. DAS ist aber Grubers Thema. Für das Wegziehen dieser Tücher ist er nicht zuständig.
    Ich gestehe aber, dass mir „mystische Erfahrungen“ generell suspekt sind. Liegt vielleicht daran, dass ich nicht nach „Erlösung“ strebe und mit dem Erfahren des alltäglichen Unrats schon genug zu tun habe.

    bye
    dpr

  5. „Des alltäglichen Unrats schon genug zu tun“? Ärmster. Nur dass die Wirklichkeit und vor allem all der Unrat, siehe Franziskus, eben auch zu den mystischen Erfahrungen dazugehört. Das ist nun mal kein Abschweben, wie die meisten denken, sondern ein Ankommen, auf der Erde.

    Wenn du mal kannst, sieh dir den Film von Rossellini an, wie Franziskus auf den Leprösen trifft. Da schaudert’s einen.

    Äh: Wen meinst du denn mit „alltäglichen Unrat“? Mich doch wohl nicht, oder? (Unrat M.A., das wäre was.)

    Ich weiß aber nicht, ob Gruber das so recht hingekriegt hat, mir waren die anderen Elemente dafür viel zu langweilig, und die Verbindung zwischen ihnen alle viel zu lose. Ich hab’s nur pflichtgemäß zu Ende gelesen.

  6. Nein,nein, wenn, dann bist du Professor Unrat. Den Gruber fand ich anfangs auch, na, nicht unbedingt langweilig, aber langatmig. Das hat sich aber gegeben. Später fand ich genau dieses Langatmige spannend. Aber wie sagt der versierte Forumsbesucher: Die Geschmäcker sind verschieden, hä, hä…

    bye
    dpr

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