Bücher, die einem als Fortsetzungen vorangegangener Bücher angedroht werden, weil sie ohne die nicht zu verstehen seien, mag ich nicht. Grundsätzlich. Ohne Ausnahme. Uta-Maria Heims „Wespennest“ ist die Fortsetzung von „Das Rattenprinzip“ (1991), das der Autorin den Deutschen Krimipreis 1992 beschert hat. „Wespennest“ brilliert als eigenständiges Werk. Um es aber in Vollendung zu „verstehen“, lese man „Das Rattenprinzip“. Vorher, nachher, ganz egal. Soviel zu meinen Grundsätzen.
„Das Rattenprinzip“. Anfang der Neunziger kommt Udo Winterhalter, bisher Provinzjournalist, als Lokalchef zum Stuttgarter „Tagblatt“. Winterhalter ist ehrgeizig, der Klüngel der Großstadt verwirrt ihn. Er ist mit Claudi liiert, der Tochter des „roten Karle“, einem kommunistischen Handwerker, den der ideologische Niedergang im Osten schwer gebeutelt hat. Auch mit „Ossi“ Oswald ist er befreundet, einem leicht dubiosen Polizeibeamten. Mehr oder weniger zufällig kommt Winterhalter einer Bestechungs- und Manipulationsgeschichte auf die Spur, in deren Mittelpunkt die „Schwäbischen Motoren-Werke“ stehen. Sie „sponsern“ ein Kulturmagazin sowie weitere Institutionen des intellektuellen Lebens, das „Literarische Zentrum“ etwa, dessen Leiterin, die aparte Schweizerin Brigitte Heckmann, Winterhalter auf amouröse Abwege lockt. Dahinter steckt natürlich wirtschaftliches Kalkül, bei dem auch das „Tagblatt“ seine schmutzige Rolle spielt.
Wie es sich für einen Krimi gehört, kommen etliche Menschen zu Tode. Der Journalist Leif Götzburg rast mit seinem Wagen ungebremst gegen eine Hauswand und verbrennt. Ein junges Mädchen wird erstochen, und irgendwann erwischt es auch die Heckmann und ganz am Schluss den naseweisen Dackel.
Erzählt wird uns diese Geschichte in schnellen Schnitten aus vielen Perspektiven, sprachlich mit stilistischer Flexibilität und bösem, pointiertem Witz. Seine achtzehn Jährchen merkt man dem „Rattenprinzip“ also nicht an, es ist im besten Sinne zeitlos. Stück für Stück werden die Elemente einer typischen Provinzschweinerei angekarrt, bei der sich Großindustrie und Kultur, Journaille und Schickimicki bezwecks Geld- und Machtvermehrung auf das Innigste verschwistern. Ein überschaubares Szenario also – nein, nicht ganz. Denn das Netz, das Heim hier auswirft, ist nicht so fest geknüpft, wie es manch ein Krimifan gerne hätte. Am Ende baumeln lose Fäden, und einen davon nimmt Uta-Maria Heim im „Wespennest“ wieder auf, zieht daran – und siehe, es entsteht ein neues Netz, eins à la 2009.
„Wespennest“. 2008, immer noch in Stuttgart. „Ossi“ Oswald, im „Rattenprinzip“ noch Polizist und Verfassungsschützer, später schwerkranker Frührentner, ist ermordet worden. Just dort, wo einstens Leif Götzburg unliebsame Bekanntschaft mit einer Hauswand machte. Gibt es einen Zusammenhang? Winterhalter, im „Rattenprinzip“ fürs Ermitteln zuständig, ist inzwischen Erfolgsautor, wenn auch eher zwielichtiger Art. Am „roten Karle“ nagt noch immer der Zusammenbruch des Kommunismus, einen Schlaganfall hat er auch gehabt, Claudi lebt als verheiratete Ehefrau und Mutter im Gutbürgerlichen, weitere Protagonisten dämmern in Senioren-Wohngemeinschaften mehr oder weniger visionär vor sich hin. Die Polizisten Anita Wolkenstein und Timo Fehrle nehmen sich des Falles an.
Wie schon im „Rattenprinzip“ kommen sie diversen Provinzintrigen auf die Spur, doch die Autorin, angetreten, ihren 1991er Roman „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen, hat etwas ganz anderes im Sinn und missgönnt uns den kleinen Sieg über die Unübersichtlichkeit, den Trost des „Jetzt wissen wir, was da gespielt wurde“. Sie wirft alles, wirklich alles in einen großen Topf und rührt: Altnazis und Stasi, Wirtschaftsbosse und Verfassungsschutz, den großen und den kleinen Terrorismus, ja, sogar das Reale mit dem Irrealen, die blanken Fakten mit den Mythen. Was geschah damals, 1977, wirklich in Stammheim? Haben Ensslin, Baader und Raspe tatsächlich Selbstmord begangen? Totgeglaubte tauchen auf. Irgendwo auf Kuba oder im Haushalt Claudis, wo die im „Rattenprinzip“ ermordete Brigitte Heckmann inzwischen als Katze lebt und das große Vergnügen hat, das Hirn ihres Exliebhabers aufzulecken, bevor sie erschossen wird, um als Wespe wiedergeboren zu werden.
Huch? Darf man das? Wird hier nicht etwas, statt vom Kopf auf die Füße, vom Kopf in den Wirrkopf gestellt? Keineswegs. Denn: 2008. Alles hängt zusammen, Globalisierung. Es geschehen Dinge, die man niemals für möglich gehalten hätte, Verbindungen zwischen dem Unvereinbaren offenbaren sich, Übersichtlichkeit ist zum Synonym für Naivität geworden. Die Ratten feiern den Sieg – und keiner schaut hin.
Ja doch: Mit „Wespennest“ ist Uta-Maria Heim ein verdammt realistischer Kriminalroman gelungen, mindestens so brillant geschrieben wie „Das Rattenprinzip“, aber eben auf dem aktuellen Stand der Dinge, in seiner Nichtplausibilität höchst plausibel, ein Stimmenwirrwarr, als hätte sie einfach in die verrückte Welt hineingehört – hat sie sicher -, es ist das Ende der guten alten Ratio, und auch hier mit genügend baumelnden Fäden, die uns auf eine Fortsetzung hoffen lassen. Irgendwann, gleicher Ort, wieder mit dem Beweis, dass engagierte Kriminalliteratur nicht nur gut gemeint, sondern auch verdammt gut geschrieben sein kann. Hoffentlich dauert es nicht weitere 18 Jahre. 2009 jedenfalls werden es die Kolleginnen und Kollegen schwer haben, „Wespennest“ auch nur zu erreichen. Versuchen sollten sie es aber, kann der deutschen Kriminalliteratur nicht schaden.
Uta-Maria Heim: Wespennest. Der Sieg des Rattenprinzips.
Gmeiner 2009. 279 Seiten. 9,90 €
Uta-Maria Heim: Das Rattenprinzip. Gmeiner 2008
(EA: Rowohlt 1991). 231 Seiten. 9,90 €