Andrea Maria Schenkel: Bunker

Je kürzer der Text, desto ausführlicher die Rezension. Und dann ist es noch nicht mal eine… Aber ist „Bunker“ überhaupt ein Krimi? Wird wohl, oder? Ihn zu analysieren, das ist ganz bestimmt einer…
Wenn einem die Kritikaster das eigene Werk wie ein nasses Handtuch um die Ohren hauen, dann kommt Lob gerade recht. Aber, mal ehrlich, möchte man wirklich SO gelobt werden? : „(…) nicht ganz so geglückt ist wie die ersten beiden (…) Dafür besticht die Konstruktion (…)“ – „eklatante sprachlich-dramaturgische Schwächen (…)bei aller Kritik, eher Respekt (…)“ – „Aber die frühere Faszination hat sie nicht hervorgerufen. (…) Eine Etüde eben.“

Und so weiter. Rechnet man zu diesen Rezensionen, die eine gerupfte Autorin samt Buch fürsorglich vor dem Desaster retten wollen, all jene hinzu, die genau dieses Desaster in Frau Schenkels „Bunker“ erkannt haben wollen, erinnert man sich zudem an die durchweg negativen (und teilweise ehrabschneiderisch-hämischen) Kommentare von LeserInnen in diversen Foren, dann bleibt nicht mehr viel an „echtem Lob“ übrig. Und auch das bleibt zumeist vage. Da ist viel von „Faszination“ und „Virtuosität“ die Rede, ohne dass uns gesagt würde, worin die denn bestehen sollen.

Nun möchte ich hier nicht die Kritiker schelten, denn ich kann ihre Unsicherheit, ihre Enttäuschung durchaus nachvollziehen. Dass manche schlicht Schwierigkeiten hatten, überhaupt die Handlung nachzuerzählen (und dies auch einräumten), die Geschichte als nicht glaubwürdig, die Personen als kaum konturiert einstuften, den Sprachduktus dilettantisch fanden oder offensichtliche Plausibilitätsschwächen konstatierten – alles richtig. Summieren wir es nüchtern. „Bunker“ ist NICHT:

– eine nacherzählbare Geschichte
– eine stringente Erzählung
– das Psychogramm ZWEIER Personen
– ein sprachlich „gebügeltes“ Werk
– ein der üblichen Logik unterworfener Krimi.

Gut, zugestanden: Dann bleibt auch nicht mehr viel übrig, jedenfalls nicht nach den ebenso ehernen wie albernen „Gesetzen des Genres“. Die sollte man zunächst also schnell beiseite räumen. Ja, man sollte bei dieser Gelegenheit wenigstens ein paar Gedanken daran verschwenden, was Literatur außer „eine Geschichte erzählen“ überhaupt noch sein könnte. Beispiele findet man dazu genug. Nehmen wir die Märchen. Ich kann „Hänsel und Gretel“ als eine Geschichte goutieren, in der zwei arme Kinder im Wald ausgesetzt werden, bei einer Hexe landen und dem Backofen nur durch List und Tat entgehen, so dass am Ende alles wieder gut wird und man, so nicht gestorben, immer noch lebt. Man kann aber auch darauf kommen – und bei Märchen ist man’s sogar -, dass hinter dieser recht simplen Geschichte ein ganzes Arsenal von Ängsten und Verdrängtem lauert, tiefenpsychologisch Relevantes, düster Archetypisches… Dinge also, die man via stringenter Erzählung, einer Geschichte eben, durch die Zeitläufte tradiert hat, immer wieder abgewandelt, ergänzt, entschärft. Dann liest sich „Hänsel und Gretel“ u.a. auch als die Geschichte sexueller Wirrungen in der Adoleszenz, wird die Hexe zur „triebhaften Frau“, die den unschuldigen Jüngling so lange in den Käfig steckt, bis sein kleiner Finger dick genug ist, auf dass der gesamte Leib lustvoll verzehrt werden kann. – Für was der kleine Finger in diesem Märchen steht, braucht nicht weiter erläutert zu werden. Und so weiter.

Was ich damit sagen will: Nacherzählbare Geschichten wie die von „Hänsel und Gretel“ sind manchmal gar keine. Und vielleicht begann mit den Märchen auch das, was wir heute die „moderne Literatur“ nennen. Geschichten wider die alltägliche Logik und das alltägliche Erwarten von „Sinnhaftigkeit“, Geschichten, in denen nicht auf die bekannte Art „kommuniziert“ wird, Geschichten, in denen die Fragen, wer hier wem ein Böses antut und ob er dafür bestraft wird, völlig irrelevant sind. Es gehört nun zu den großen Missverständnissen dieser Literatur, dass sie zunächst verkannt wird – und manchmal auch verkannt bleibt. Immer noch mag es Leute geben, die „Gullivers Reisen“ für eine lustige Kinderstory halten oder „Lederstrumpf“ für einen atmosphärisch-spannenden Vorwestern. Auf jeden Fall gibt es Leute, die „Bunker“ fortan für die Geschichte einer Entführung halten und sofort „Stockholm-Syndrom“ assoziieren oder an die schriftlich analysierten Leiden von Jan Philipp Reemtsma denken oder den Herrn Fritzl, der ja schließlich auch in einem „Bunker“ tätlich geworden ist. – Solche Mutmaßungen waren VOR dem Erscheinen des Buches durchaus angebracht und ergaben sich aus den spärlichen Vorabinformationen. Aber jetzt? Nachdem man das Buch gelesen hat?

Schauen wir uns zunächst einmal die Art und Weise an, wie Andrea Maria Schenkel ihren Text äußerlich strukturiert hat. Es gibt die Ich-Rede des Täters und die des Opfers, typografisch voneinander abgesetzt (was, nebenbei, des Guten zuviel ist; hätts nicht gebraucht). Und es gibt eine dritte, bislang kaum beachtete Ebene (fetter gedruckt als die beiden anderen), auf der eher reportierend der Fund einer schwerverletzten Person am Tatort Mühle, ihr Abtransport sowie die ärztliche Versorgung eines Messerstichs in den Bauch beschrieben wird (fast rührend, dass die Autorin im Anhang die schriftliche Quelle ihres Wissens über solche Operationen angibt…). Überall dort, wo diese Ebene bislang überhaupt erwähnt wurde, hat man auf ihre „unlogischen Komponenten“ verwiesen: Wer hat die Polizei gerufen? Wie konnte die mit ihren Fahrzeugen überhaupt zur Mühle gelangen, wo diese doch für Fahrzeuge nicht zu erreichen ist? – Wie dieser Strang aufgebaut ist, hat man nicht erfahren, obwohl dieses Detail entscheidend gewesen wäre. Denn tatsächlich ist diese Ebene die einzige, die unseren Vorstellungen von „Krimi“ entspricht. Man entdeckt ein Verbrechen und versorgt das Opfer. Nun passiert aber folgendes. In der letzten Passage dieser Ebene und des Romans überhaupt drehen sich die Ereignisse in sich selbst zurück, wir sind wieder in der ersten Szene dieses Erzählstrangs, vor der hell erleuchteten Mühle, bei den Sanitätern, die eine verletzte Person bergen, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Immerhin erfahren wir hier im Gegensatz zur ersten Szene, um wen es sich bei dieser Person handelt – aber das hätten wir zu diesem Zeitpunkt auch so gewusst.

Diese Konstruktion ist zwar in ihrem Duktus ganz „Krimi“, weigert sich aber andererseits, die notwendige Stringenz eines solchen aufzuweisen. Die „Geschichte“ geht nicht voran, sie rundet sich abrupt. Alles was in diesem Rahmen, aus dem eigentlich ein Kreis geworden ist, geschieht, wird sich im Folgenden dieser A-Chronologik unterwerfen und die Handlung vollständig aus dem Schema des handelsüblichen Krimis herauslösen.

Das wir es hier mit einem wie auch immer gearteten Spiel mit der Zeit zu tun haben, zeigt sich schon gleich in der ersten Szene des Romans. Das Fatale daran: Wir können es noch nicht erkennen. Was da geschieht, könnte tatsächlich wie ein Stück chronologisch konstruierte Prosa nacherzählt werden. Zuerst geschieht dies, dann geschieht das und abschließend jenes. Auch hier müssen wir weiterlesen, um zu erkennen, dass es völlig anders ist, die Szene eigentlich in der Abfolge nicht hierher zu gehören scheint. Merkwürdiger noch: Sie scheint nirgend wo hin zu gehören. Aber das müssen wir genau untersuchen, denn diese erste Szene ist – auch im Wortsinn – die Schlüsselszene des gesamten Textes.

Sie beginnt mit dem Satz: „Ich muss noch den Schlüssel holen.“ Merken wir ihn uns, er wird noch wichtig. Der Mann, der diesen Satz sagt / denkt, befindet sich im Keller der Mühle, deren hinterste Räume jener titelgebende Bunker sind. Der Schlüssel befindet sich in diesem Bunker. Der Mann betritt ihn („Rein in den Bunker“). Da es dort kein Licht gibt, lässt er die Türen offen, um die Helligkeit aus dem Treppenflur auszunutzen. Der Mann sucht verzweifelt nach dem Schlüssel, findet ihn nicht. Plötzlich – ein Geräusch: „Ist da einer an der Tür?“ Der Mann krabbelt, rennt zurück zur Tür des Bunkers, die sich langsam schließt. Als er dort ankommt, ist sie geschlossen. Kurz darauf wird auch die Falltür, durch die das wenige Licht aus dem Treppenflur gekommen ist, geschlossen, es herrscht nun völlige Dunkelheit. Der Mann, nun ein Gefangener, lamentiert. Auf einmal: „Der Raum ist in rotes Licht gehüllt.“ Woher das kommt? Der Mann weiß es nicht. Aber: „Ich bin nicht alleine, ich höre Schritte. Ich gehe durch dieses Meer aus rotem Licht, folge den Schritten in den mittleren Raum. Da sehe ich ihn, ein großer, kräftiger Mann.“ Dieser andere Mann geht in den hintersten Raum, nimmt Anlauf, rennt gegen die Tür des Bunkers, rammt sie. Die Tür springt auf, der Mann „muss über mich hinweggesprungen sein“. Im Raum ist es wieder stockdunkel, „die Bunkertür geschlossen“.

An dieser Szene ist nun mancherlei merkwürdig. Zunächst, wie schon gesagt, der Platz, an dem wir sie finden, nämlich ganz vorne im Text. Sie müsste ganz nach hinten gehören. Dann die Frage nach dem zweiten Mann im Bunker. Wer ist er? Gehen wir zu der Stelle zurück, an der der Mann bemerkt, nicht alleine im Bunker zu sein: „Der Raum ist in rotes Licht gehüllt. Ich kann nicht erkennen, woher das Licht kommt, sehe mir selbst dabei zu, wie ich aufstehe, mich langsam umsehe.“ – Wenn der Mann sich also selbst zusieht, dann dürfen wir vermuten, ER SELBST sei auch dieser zweite Mann, der gegen die Tür rennen und entkommen wird.

Im Grund steht auf diesen knapp vier einleitenden Seiten das gesamte Bauprinzip der Geschichte. Ein Mann – es handelt sich um den Entführer – wird zum Opfer, zum Eingesperrten. Um zu entkommen, braucht es eine zweite, Person, die zwar als „fremd“ beschrieben wird, ohne Zweifel jedoch eine Imagination des eigenen Kopfes ist. Was die Chronologie anbetrifft, ist diese erste Szene ein getreues Abbild der dritten, oben skizzierten Ebene. Auch hier läuft das Ende der Geschichte wieder in seinen Anfang zurück, formiert einen Kreis.

Der Leser, wie gesagt, kann das noch nicht einordnen. Er weiß in diesem Moment auch gar nicht, wen er vor sich hat. Von einem „Schlüssel“ ist die Rede, gleich darauf von einem „Plastiksack“, dann einem toten „Fettsack“ und anderem „Kram“ aus einem Sakko. Man wird die paar Seiten lesen und, steht zu vermuten, zunächst einmal vergessen.

Denn jetzt beginnt ja die Geschichte, die uns auch in den Kritiken immer erzählt wird. Sie geht so: Ein Mann überfällt eine Autovermietungsfirma, fordert von der einzigen dort anwesenden Angestellten den Tresorschlüssel und nimmt die Frau, als sie ihm diesen Schlüssel nicht aushändigen kann, als Geisel. Und dann hocken sie in dieser Mühle und dann… Doch gemach. Fordert der Mann tatsächlich den TRESORschlüssel? In der entsprechenden Passage ist lediglich von einem „Schlüssel“ die Rede, und der Leser wird sich vielleicht daran erinnern, dass von diesem Schlüssel bereits im allerersten Satz der Erzählung die Rede ist: „Ich muss noch den Schlüssel holen“.

Und wieder ist der Leser überfragt: Handelt es sich bei diesem Schlüssel um den TRESORschlüssel? Würde er die Passage später noch einmal lesen, würde er wohl sagen: Ja, natürlich. Um was sonst. Jemand überfällt eine Firma und möchte die Kohle aus dem Tresor. – Wirklich? Wir werden im Verlauf der Erzählung daran zweifeln. Entführt der Mann die Angestellte, weil er über sie an den Schlüssel herankommen möchte? Oder überfällt der Mann die Firma, weil er die Frau entführen MUSS, den Überfall also nur vortäuscht und gar nicht an DIESEM Schlüssel interessiert ist, sondern an einem ganz anderen, dem Schlüssel zu sich selbst? Für beide Versionen gibt es genügend Belege.

Die Frau wäre so oder so analog zum fremden Mann aus der Eingangsszene eine völlig der Imagination des Mannes entsprungene Akteurin. Er hat sie zwar erschaffen wie diesen Mann, er sieht sie wie diesen Mann, er lässt sie agieren wie diesen Mann – aber beide –Schöpfer und Geschöpf – können nicht MITEINANDER kommunizieren. Dazu passt auch folgender Satz aus der Eingangsszene: „Er muss über mich hinweggesprungen sein.“ Genau: Dieser Mann nämlich hat keinerlei Anstalten gemacht, mit dem anderen, der ihn erschaffen hat, zu kommunizieren. Er ist über ihn hinweg, genauer wohl: durch ihn hindurch gesprungen. Auch die Frau wird nicht wirklich mit dem Mann kommunizieren. Dort, wo sie es scheinbar tut, redet / denkt sie wie der Mann – und umgekehrt (man vergleiche hier mit →meinen Ausführungen zur Sprache von „Bunker“).

Und noch einmal zur dritten Ebene, dem Auffinden und Versorgen der verletzten Person: Hier wird, in der nüchtern reportierenden Sprache eines konventionellen Krimis dieses Imaginierte plötzlich sehr real. Die verletzte Person – der Tresorschlüssel: beide existieren nur im Rahmen des stringent erzählten Kunstwerks, das diese dritte Ebene darstellt – und das am Ende genau so als Imagination enttarnt wird wie alles andere in diesem Text (indem Schenkel Stringenz und Chronologie aufhebt). Denn dieser Text, man muss es fast in Großbuchstaben hinschreiben, IST EIN MONOLOG!!! Nichts weiter. Oder, weil wir schon einmal bei Märchen waren: Es ist die narrative „Händel und Gretel“ – Version eines ganzen Bündels von Ängsten, Deformierungen, Wünschen, das hier als eine herkömmliche Geschichte INSZENIERT wird, um im wahrsten Sinne „begreifbar“, „nachvollziehbar“ zu sein. Was aber – siehe die ständigen Kreisbewegungen – nicht gelingen kann.

Es geht nicht um „Personenzeichnung“, nicht um die Entwicklung eines Kriminalfalls, nicht um das Verhältnis von Täter und Opfer, nicht um „erlebte Rede“. Die ganze Konstruktion läuft auf einen Gegenwart und Vergangenheit durchdringenden Monolog hin, in dem Personen und Dialoge imaginiert werden, ohne dass so etwas wie „Kommunikation“ überhaupt stattfinden könnte. Täter und Opfer sind also eins. Schon auf den ersten Seiten wird auch klar, was diese Inszenierung bewirken soll. Nur wer sich selbst als Opfer sieht, kann auf Befreiung hoffen. In der Folge entwickelt sich nun ein rasantes Spiel um diese Opfer- / Täterrolle. Sie wechselt ständig, was schon daran zu erkennen ist, dass die Frau, die eigentliche „Gefangene“ sich über weite Strecken des Textes frei bewegen kann, entfliehen könnte. Dann aber wäre das Spiel verloren. Sobald die Befreiung des imaginären Ich gelungen scheint, wechselt der Focus auf die andere, die gefangene Person. Wieder schließt sich ein Kreis, entwickelt sich nichts. Die auf der dritten Erzählebene intendierte „Heilung“, die keine ist, weil auch hier immer wieder alles von vorne beginnt, zementiert dies endgültig.

Wäre „Bunker“ ein Roman mit kommunizierenden, genau gezeichneten Personen – man könnte ihn tatsächlich als reichlich misslungene „Etüde“ abtun. Da er genau das aber nicht ist, bleibt er – ein aufregendes Stück Literatur, dessen Lektüre zwangsläufig mit der Chronologie und der Vorstellung einer entwickelten „Geschichte“ brechen muss. Vieles erhellt sich erst beim Wiederlesen, beim Zurückblättern, Vorblättern.

So MUSS man „Bunker“ natürlich nicht lesen. Es scheint mir jedoch eine Lesart, die Andrea Maria Schenkels Textstrategien ernstnimmt.

Andrea Maria Schenkel: Bunker. 
Edition Nautilus 2009. 122 Seiten. 12,90 €

15 Gedanken zu „Andrea Maria Schenkel: Bunker“

  1. Lieber DPR,

    jetzt haben Sie sich selbst übertroffen. Wir lesen also die Imaginationen eines Ichs, das sich in zwei Hälften aufspaltet, aber in jeder Rolle letztlich immer wieder zum Opfer mutiert.
    Blättert man genugsam vor und zurück, kriegt man’s raus. Ein Lesevergnügen scheint es also nicht zu sein. Wie sich die fettgedruckte Realreportage mit Krankenwagen, Messerstich und Abtransport in diese Imaginationen hineinfügt (Messerstich à la Mannichl durch Phantom-Nazi ?), habe ich jetzt allerdings nicht verstanden.

    Ist da nicht mindestens ein Twist zuviel in dieser Rezi?

    Ich würde gerne wissen, was die Autorin selbst von diesem Blick auf ihr Werk hält. Ob sie ihre Intentionen darin wiedererkennt? Oder kommt es darauf gar nicht an?

    Ich will das Buch nicht lesen müssen, nur um Ihre Rezi würdigen zu können. Kurz: soll(te) man es lesen? Das ging aus Ihrem Text nicht hervor. Leider.

  2. Da greife ich doch glatt noch mal auf Hänsel & Gretel zurück, liebe Frau Wolff. Das würde ich keinem Kind – und auch manchem Erwachsenen – nicht SO zu lesen geben, wie ich es lese. Was jetzt gar nicht abschätzig / arrogant gemeint ist. Märchen, einfach so gelesen, haben ihre eigene Magie, ihren eigenen Charme. Man kann sie aber auch anders lesen, in einem etwas vertrackeren Prozess. Wer dies mit „Bunker“ tun möchte, sollte dies unbedingt machen. Ich gestehe frank und frei, dass mir „Bunker“, wie ein herkömmlicher Erzähltext gelesen, wenig bringen würde. Er wäre u.a. so gar nicht überraschend. Ob Frau Schenkel das auch so sieht? Ich weiß nicht, vielleicht sagt sie es mir mal, ist aber nicht wirklich wichtig.
    Diese Realreportage hat m.E. mehrere Funktionen. Sie suggeriert Entwicklung – und demontiert sie am Ende wieder, so wie in diesem Text ALLES sich zu entwickeln scheint – und doch nicht tut. Rein inhaltlich wird ja der Beginn eines Rettungs- und Heilungsprozesses beschrieben – und genau das ist die Motivation für dieses beständige Emanieren offizineller „Entwicklung“. Das Ich soll „heil“ werden, das Trauma überwunden. Geht auch schief. – Mit den typografischen Absetzungen, da gebe ich Ihnen recht. Muss nicht sein. Aber Arno Schmidt hätte in „Kaff“ auch nicht die Mondpassagen einrücken müssen, ebenfalls völlig überflüssig. Dennoch ganz netter Text geworden…

    bye
    dpr

  3. Deine Rezension ruft bei mir eine Assoziation aus dem Film-Genre hervor. Dort spricht man bekanntlich von einem „Experimentalfilm“, wenn ein Regisseur sich den üblichen (Seh-)Konventionen nicht unterwirft. Manchmal mit einer nachhaltig bereicherenden Erfahrung für den Zuschauer verbunden, oft mit heftigem Kopfschütteln und dem inneren Ruf nach den Männern „mit den weißen Jacken“.

    Im Bereich der (Kriminal-)Literatur ist mir Vergleichbares nicht bekannt, allenfalls vom Hören-Sagen aus dem Bereich der Lyrik.

    Vielleicht wird man „Bunker“ in einigen Jahren gerade wegen der darin zum Ausdruck kommenden Experimentierfreudigkeit von Schenkel als ein wegweisendes, von den Zeitgenossen wieder einmal verkanntes Werk betrachten. Schau’n wir mal. Ich bin jedenfalls neugierig geworden.

    Abgabe übrigens morgen, versprochen.

    Gute Nacht.

  4. In der Kunst / Literatur gibt es ein paar Konstanten. Es wird ständig ausprobiert, und alles, was „neu“ ist, darf sich zunächst einmal als „Schund“ bezeichnet sehen. Manches davon setzt sich durch und wird seinerseits zum Standard (von Dürer bis zur modernen nichtgegenständlichen Kunst ist es ein weiter, mit „Experimenten“ gepflasterter Weg). Wer also jetzt „buh!“ schreit, hätte vielleicht auch „buh!“ geschrieen, als Hammett „Red Harvest“ veröffentlichte. Oder die Franzosen ihre Spielart des Noir. – Wobei Experimente um der Experimente willen ja noch nichts Atemberaubendes, gar Richtungweisendes sein müssen. Und das Alte nicht schlecht, weil es bewährt ist. Versteht sich von selbst.
    Bei „Bunker“ ist mir übrigens – man erschlage mich – sofort Jerome Charyn, „Citizen Sidel“ eingefallen. Gewisse Parallelen im kompositorischen Überbau gibts da schon…

    bye
    dpr

  5. Vielleicht wäre es auch Sache der (Krimi-) Kritik zumindest auch einmal die Experimentierfreudigkeit einer Autorin zu loben und damit diese und andere zu ermutigen. Gejammert über Autoren, die sich auf ausgetretenen Pfaden bewegen, wird ohnehin genug.

    Meine email angekommen?

  6. Lieber DPR,

    daß zwischen Autorenintention und Interpretation Welten klaffen, ist mir, die in beiden Genres tätig ist, klar. Muß auch wohl so sein.

    Was Arno Schmidt und sein »Kaff« angeht, liegen Sie als Interpret klassischerweise daneben, was die Autorenintention angeht: dem Autor war die Zwei-Spalten-Setzung, die Abgrenzung zwischen Realität und Mond-Erzählung, nämlich absolut wichtig. Als Hans Wollschläger seinerzeit Einwände gegen die zu simple Technik erhob, antwortete Schmidt: „Ich werde jedenfalls zur brutalen Theorie 1 brutales Beispiel liefern, 1 praktisch=erträgliches : die Kerls sollen den Kopf wenden müssen, wenns von E I nach E II geht !“ Und das meinte er ernst: ich konnte ein Widmungsexemplar Schmidts der Erstausgabe von KAFF erwerben: da hat er doch tatsächlich einen Satzfehler auf S.17, wo eine Zeile der rechtsspaltigen Monderzählung nach links ausgerissen ist, mit einer eckigen Klammer in die rechte Spalte zurückgeholt, das Korrekturzeichen am rechten Rand wiederholt und die Korrektur mit „Schm“ signiert. Das hat er vermutlich bei allen 15 Widmungsexemplaren getan, die er im Dezember 1960 verschickt hat.
    Ihm kam’s drauf an – der Interpret findet es überflüssig.
    Ich als Interpretin finde die Trennung hilfreich, denn sie zeigt, wie die öde Realität durch die Phantasie bearbeitet wird und wie das Phantasieprodukt die Realität befruchtet und erweitert. So kläglich wie Karl Richter ist keine Ich-Figur Schmidts – und so May-mäßig heldenhaft niemals sein Alter Ego Charley in den Monderzählungen. Das ist das Thema von KAFF. Und Schmidt rechnete mit schlichten Gemütern wie meinem, und er tat wohl recht daran.

    Insoweit bleibe ich bei meiner Rezensionskritik; ich habe den Eindruck, daß das Movens, eine solche Kritik zu schreiben, das Bedürfnis war, sich von der allgemeinen Negativ-Kritik abzusetzen und sich durch hochintellektuelle Interpretation der Text-Konstruktion (die ja immer nur Sekundärcharakter hat) zu profilieren.
    Sorry.
    Ob das Buch für jemanden, der kein Vorturner in Sachen abstrakter Würdigung ist, mit Gewinn lesbar ist, kann ich auch der nachgeholten Interpretation des „Reportageteils“ nicht entnehmen. Auch der demontiert also nur. Weckt Erwartungen auf einen Realgehalt des subjektiven Sprechens, den er dann nicht einlöst.
    Ist das nicht ein intellektueller Twist zuviel? Dekonstruieren ist zwar modern, irgendwie: als Autorin weiß ich aber, daß jeder, der schreibt, zumindest sein eigenes Werk als sinnvolles Konstrukt begreift; das ist selbstverständlich, und als Seiteneinsteiger ins schaffende Gewerbe müßten Sie mir zustimmen.

    ›Hänsel und Gretel‹ – besonders hübsch fand ich den Verschreiber ›Händel und Gretel‹- gehört zu meinem Leben. Ich schätze den Text in jeglicher Lesart. Aber als ein von Geschichten überwältigtes Kind, das immer wußte, daß es aus üblen Realitäten Fluchtwege geben muß, liebte ich schlicht und einfach diese Geschwisterliebe, die nicht nur die gelingende Flucht aus einem üblen Elternhaus als wahre Alternative verhieß, sondern sie auch die viel schlimmere Hexenattacke überstehen ließ. Denn das ist die Kernaussage des Märchens, die jedes Kind unmittelbar versteht. Kinder, die sich lieben, können grauenhaften Lebensverhältnissen entkommen. Der Trost schlechthin.

    Die sexuelle Restsubstanz des Märchens mögen die Erwachsenen herauskitzeln – es handelt sich um einen archaischen zusätzlichen Textuntergrund, der mit der Erstwirkung des vorgelesenen Märchens auf Kinder nichts zu tun hat.

    Nach diesen Erörterungen von Autorenintention, intellektueller Interpretationshoheit, der doppelbödigen Wirkung von Märchen (und es ist eine oberflächliche Erörterung, aber was soll man machen?) stelle ich die Frage erneut:

    Kann man ›Bunker‹ mit Gewinn lesen oder eignet sich das Buch lediglich zur Demonstration interpretatorischer Künste, wenn nicht gar von Künsteleien?

    Ich befürchte fast, daß Sie diese Frage nicht beantworten können. Wie soll sich der Konstruktionsjunkie in einen Leser zurückverwandeln können, der auf literarischen Mehrwert aus ist?

    Plot und Konstruktion sind sekundäre Hilfsmittel. Bei jedem Buch geht es darum, eine Sprache zu finden, die die eigentliche Geachichte trägt. Oder etwa nicht?

    Mißverstehen Sie diesen Beitrag bitte nicht als Fundamentalkritik. Ich freue mich über jeden denkenden Menschen, der Kriminalliteratur ernstnimmt. Aber als Anlaß- und Demonstrationsobjekt freischwebender Interpretation werden Texte dieses Genres gerade nicht ernstgenommen.

    Dieser im eigenen Saft gegenseitiger Lobhudelei & Alberei schmorende Blog einiger weniger Teilnehmenden bedarf aus meiner Sicht manch Injektionen an Widerspruch. In diesem Sinne:

    hart aber herzlich!

  7. Oh, jetzt weiß ich kaum, wo ich mit meiner Erwiderung anfangen soll. Okay. Erst einmal: danke für die Injektionen. Das meine ich ernst,nehme ich ernst. Eine einzige Sache hat mich indes verärgert, die Mutmaßung nämlich, ich habe meine „Bunker“-Kritik einzig geschrieben, um mich von der Negativkritik „abzusetzen“ und mich „zu profilieren“. Da könnte ich als Replik natürlich behaupten, Sie selbst seien mit jeder positiven Wahrnehmung der Frau Schenkel deshalb nicht einverstanden, weil die mehr Bücher verkauft als Sie. Wäre ebenso albern, also schenken wir uns das.

    Dieser Blog ist manchmal lobhudelnd, manchmal albern. Genau. So wars auch von Anfang an gedacht. Die Zahl regelmäßiger Kommentatoren ist überschaubar – zeigen Sie mir bitte einen anderen, bei dem das nicht so wäre. Aber bei wtd sind auch Nur-LeserInnen willkommen, und von denen gibt es lt. „Zugriffsstatistik“ erfreulich viele. Das zum „im eigenen Saft schmoren“. Ein, nehmen Sies mir nicht übel, ziemlich plumpes Totschlaginstrument, denn im eigenen Saft schmort man irgendwie immer. Aber lassen wir auch das.

    Kann man „Bunker“ mit Gewinn lesen? Nun, ich habs getan. Andere werdens nicht, weil sie ihre Lesegewohnheiten nicht umstellen möchten, wofür ich Verständnis habe. Frau Schenkel ist es m.E. tatsächlich gelungen, „eine Sprache zu finden, die die eigentliche Geschichte trägt“, nur dass es eine Sprache ist, die allen auf Wohlklang und Einhaltung von Zeichenregelung Wertlegenden nicht gefallen wird. Als „Seiteneinsteiger ins schaffende Gewerbe“ (worüber ich, nebenbei, herzlich gelacht habe. Sollen wir mal checken, wer von uns beiden als erste/r Prosa geschrieben hat? Sie würden sich eventuell wundern.) weiß ich natürlich, was von einem erwartet wird: möglichst nach den tradierten Mustern verfasste Texte, wie Sie es nennen: „sinnvolle Konstrukte“. Ein solches hat Frau Schenkel vorgelegt. Und es muss auch nicht „dekonstruiert“, sondern zunächst einmal KONSTRUIERT werden. Das ist nichts weiter als die Beantwortung der Frage: Worum gehts in diesem Text eigentlich? Und da bedarf es keiner „Künsteleien“, da muss man einfach nur genau lesen, um etwa festzustellen, dass in „Bunker“ mit der Zeit, mit Identititätswechsel, mit Möglichkeitsformen, mit Überschneidungen gearbeitet wird. Was für ein flüchtiger Leser müsste ich sein, um nicht zu erkennen, dass mit dieser reportierenden Erzählebene ganz offensichtlich etwas „nicht stimmt“? Dass die Eröffnungssequenz auf etwas verweist, dass nach herkömmlicher Lesart so gar nicht sein kann? Das ist immer der entscheidende Punkt: Ich kann das ignorieren und sagen: Okay, interessiert mich nicht, ich will was stringent erzählt bekommen, und wenn das der Autorin nicht gelingt, hat sie halt versagt. Ich kann aber auch neugierig werden und mir diese Dinge im Nachhinein (das ist nämlich der Clou: Sie müssen den Text zuerst komplett lesen, um zu erkennen, dass Sie ihn noch mal lesen sollten!) noch einmal anschauen. Genau das habe ich getan und meine Schlüsse gezogen. Wobei mir die „Autorinnenintention“ nun wirklich völlig wurscht ist. Ich habe den Text und nichts sonst zu interpretieren, ich muss Fakten sammeln, Schlüsse ziehen, schauen, ob das, was ich mir da zusammenreime, auch tatsächlich stabil und tragfähig ist.
    Das alles ist nun nicht neu, liebe Frau Wolff, und Frau Schenkel hats nu wirklich nicht erfunden. Die Geschichte als längeres Gedankenspiel, die Auslagerung psychischer Komplexe auf andere Personen, das Inszenieren von Geschichten, wo es eigentlich ums Monologisieren geht, das hat Schmidt gemacht, hat Nabokov gemacht, hat Joyce gemacht, hat Kafka gemacht, hat Jerome Charyn gemacht, ich könnte es Ihnen bis zum Erbrechen vorführen. Dass es vor allem im Krimimetier, wo nicht nur Otto und Ottilie Normalleser etwas anderes erwarten, leicht ungewöhnlich ist – nun denn, das hat mich ebenfalls nicht zu interessieren. Wer tatsächlich bei „Bunker“ auf „literarischen Mehrwert“ aus ist, wird gar nicht anders können, als sich das Büchlein erst einmal zu konstruieren. So, und jetzt geh ich erst mal frühstücken.

    bye
    dpr

  8. auch ich sollte frühstücken gehen. „Bei jedem Buch geht es darum, eine Sprache zu finden, die die eigentliche Geachichte trägt“: kann es sein, sehr geehrte Frau Wolff, daß dieser Satz der Strafjuristin zuzurechnen ist und den Erfahrungen mit den Mikronarrativen, die, folgt man André Jolles‘ „Kasus“, in den Straftatbeständen enthalten sind und nur darauf warten, erzählerisch angereichert zur Novelle (und/oder zum Kriminalroman) zu werden? Das Thema beschäftigt mich schon seit geraumer Zeit — öffentlich seit 1990 mit dem Versuch, die These einmal durchzuspielen, daß JuristInnen, wenn sie als solche lesen, systematisch anders lesen als NichtjuristInnen. Damit haben sich, Stichwort ‚Tatbestand und Sachverhalt‘, Generationen beschäftigt, doch ohne die Merkwürdigkeiten zu berücksichtigen, die entstehen, wenn die juristische Rezeption (oder eben Text-/Wirklichkeitskonstitution) auf literarische Texte übertragen wird. Die Folgen diese Nichtberücksichtigung können sie alljährlich in der NJW beobachten.

    Ich fände eine Diskussion darüber ausgesprochen spannend — und sie hätte im WTD-Blog ihren logischen Ort. Vielleicht führt man’s ja fort.

    In diesem Sinne grüße ich bestens!

  9. „Bei jedem Buch geht es darum, eine Sprache zu finden, die die eigentliche Geschichte trägt“: Für einen hoffnungslosen Nichtjuristen und in der Materie auch sonst nicht Bewanderten, formuliert der Satz eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Richte deine Sprache nach dem aus, was du erzählen willst, nicht umgekehrt. Aber schön, ich wage es und postuliere mal als Nur-Autor: Ein Jurist hat eine vorgebene Sprache, in die er beliebige Geschichten pressen muss. Wenn zwei einen Mord begehen, muss ein jeder Fall durch das vorgegebene Sprachschema aufgeschlüsselt werden. Dabei gibt es „Interpretationsmöglichkeiten“, Auslegungen, Kommentare, die dafür sorgen sollen, dass die Sprache dem Fall – oder doch umgekehrt? – gerecht wird. Das Problem könnte also darin liegen, dass hier nicht die Sprache die Geschichte, sondern die Geschichte die Sprache zu tragen hat. Beim Lesen literarischer Texte wird also der Gehalt auf seine Vereinbarkeit mit den sprachlichen Formalien abgeklopft, eine Interpretation rückwärts sozusagen. Dabei bleibt von der Geschichte nichts mehr übrig, denn Juristensprache muss „geschichtenlos“ sein (andere nennen es „objektiv“). — Das nur mal so als erster Gedanke, bereit, ergänzt, widerlegt, modizifiziert zu werden.

    bye
    dpr

  10. Lieber dpr, die ‚eigentliche Geschichte‘ erinnert mich an Studienzeiten, nämlich an den ‚unbestimmten Rechtsbegriff‘ der Juristen, der so lange mehr oder minder nach Belieben mit Inhalt gefüllt wird, bis der BGH entscheidet. Doch im Ernst: ich bezweifle, daß die Vorstellung einer ‚eigentlichen Geschichte‘ sinnvoll ist, wenn ihre Herstellung unabhängig gedacht wird vom Entscheidungszwang, dem bekanntlich die Justiz unterliegt. Etwas anderes als die Plotparaphrase kann ich mir unter der ‚eigentlichen Gechichte‘ beim besten Willen nicht vorstellen. (Oder vielleicht noch das Lotmansche Sujet.) Die ’schöne Literatur‘ ist jedenfalls nicht auf sie angewiesen, und sie ist seit dem Anbruch der Moderne auch nur noch selten wertungsrelevant. Sie zeigen ja, daß man den Plot (oder wie sie’s jetzt nennen wollen) von „Bunker“ weder extrahieren noch paraphrasieren kann. Er zerfällt, so war wenigstens meine Leseerfahrung, sobald man ihn unabhängig macht von seiner Präsentation. (Man müßte vielleicht noch einmal nachsehen,, wie es um die Übergänge von der Freiheit zum Eingesperrtsein bestellt ist.) Ob man das nun mag oder nicht, es ist eine (wie ich ich meine: entscheidende) Möglichkeit der Literatur, die wir als Leser hinnehmen müssen und auch können, weil wir uns weder über den Plot noch über seine Präsentation so einigen müssen, daß es Folgen hat.

    Juristensprache ist nicht geschichtenlos (wie anders als mit Geschichten könnte man ein Urteil über ein vergangenes Geschehen fällen?), aber ihre Geschichtenproduktion unterliegt einem Stilisierungszwang, der erst die Einigung der Beteiligten ermöglicht (oder darstellbar macht). Wolfgang Naucke lehnt in strafjuristischen Zusammenhängen sogar den Begriff ‚Erzählung‘ ab, weil ihm der zu viel ‚Literatur‘ konnotiert, einigen kann man sich wahrscheinlich auf ‚Erzählen vor Gericht‘. Damit ist im Prinzip eine notwendige (aber häufig als schmerzhaft empfundene) Komplexitätsreduktion im Hinblick auf ‚Wirklichkeit‘ gemeint, die den Fall (des Urteils) unter den Bedingungen von Entscheidungszwang+Ressourcenknappheit erst entstehen läßt. Wobei ich um des Himmels Willen nicht möchte, daß Komplexitätsreduktion pejorativ verstanden wird. Auch dann nicht, wenn sich das juristische Lesen auf literarische Texte richtet. Doch mir ist bei juristischen Lesern, die ihre Leseerfahrung kommunizieren, häufig ein zielorientiertes Verstehen aufgefallen, von dem ich glaubte und glaube zeigen zu können, daß es an der professionellen Fallkonstitution orientiert ist. Wie gesagt: die alljährliche Lektüre des Goethe-Heftes der NJW bietet da vielfältiges Anschauungsmaterial, doch ich beziehe mich vor allem auf die Kleist-Forschung, in der das Wechselspiel zwischen literaturwissenschaftlicher und juristischer Lektüre außerordentlich fruchtbar geworden ist, weil (und soweit) es sich der unterschiedlichen Rahmen bewußt geblieben ist.

    Man müßte nun auch über die unterschiedlichen Vorstellungen von den ‚Intentionen‘ (der Autoren und der Leser) reden, die mich aber nicht für sich allein interessieren (im Sinne von Zurechnung), sondern nur im Spannungsverhältnis zum Eigensinn der Sprache oder meinetwegen der sprachlichen Bilder und/oder zu den Diskursspeichern, die angezapft werden müssen, wenn Verstehen überhaupt möglich sein soll.(Das Symbolische und das Soziale der Literatur: man bekommt immer beides zugleich.) Ich habe allerdings den Eindruck, daß da auf beiden Seiten häufig Selbstverständlichkeiten angenommen werden, wo sie keineswegs vorhanden sind. Aber das ist alles eh schon viel zu lang.

    Beste Grüße!

  11. Nachtrag: ich seh‘ grad, daß in „Orbis Litterarum“ (April 2009) ein Artikel über die Semiotik der Typographie in literarischen Texten erschienen ist, der hier auch einschlägig sein könnte (ob Schenkel oder Schmidt). Aus dem Abstract: „This article explores from a multimodal perspective the extent
    to which the visual aspect of printed verbal language is meaning-making in its own right, and how it intercts with other modes of meaning in a complex process of semiosis“. Wer Zugang zum EZB hat, kann ihn eh finden. Andere Interessenten können mich über meine Website kontaktieren.

    Beste Grüße (vor dem Frühstück)!

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