Eigentlich ist es ein Skandal. Da nötigt man junge Menschen seit Generationen zur Lektüre eines Buches, dessen Credo geeignet ist, nicht nur ganze Berufsstände in Misskredit zu bringen, sondern auch – Luft anhalten – die Zukunft des Wissenschaftsstandortes Deutschland zu gefährden. Oder was ist Goethes „Faust“ anderes als ein tendenziöses Machwerk wider den Forschergeist? Bist du ein ehrgeiziger Gelehrter, verbündest du dich mit dem Leibhaftigen, Punkt. Ausgewogenheit ist etwas anderes.
Ja, okay, das war jetzt ein kleiner Scherz, um ins Thema zu kommen. Darf die Literatur zuspitzen? Einseitig sein? Gar ungerecht, parteiisch und verleumderisch? Das Skandalönchen „Moslembashing“, wie es nicht ohne Geschick und Gespür für die Bedürfnisse des Medialen jüngst inszeniert wurde, ist ja nur ein Beispiel von vielen. Vorige Woche verschlug es mich zu einer Lesung von Christine Lehmann, die ihren neuen Roman „Mit Teufelsg’walt“ vorstellte, in dem es um die Praktiken von Jugendämtern bei der „Kindsentziehung“ geht. Sie glaube, so Frau Lehmann einführend, hier agiere man willkürlich in einem rechtsfreien Raum, befeuert von materiellen Interessen diverser Pflegeeltern und Kinderheime. So jedenfalls die Recherche. Natürlich wisse sie auch um die andere Seite des Problems. Was geschieht, wenn Jugendämter NICHTS tun? Es sei eben komplex und sie selbst froh, nicht für ein Jugendamt tätig sein zu müssen.
Der gelesene Buchausschnitt – einige Damen vom Jugendamt wollen in Herrgottsfrühe einen kleinen Jungen aus seiner Familie holen (hier wurde die Assoziation „Gestapo“ explizit nahegelegt) – zeichnete tatsächlich ein eher düsteres Bild deutscher Jugendamtswirklichkeit. Nach der Lesung meldete sich ein – wahrscheinlich – Ehepaar zu Wort und warf der Autorin Einseitigkeit vor. Ob man wirklich immer zuspitzen müsse? Warum nicht ausgewogener? Christine Lehmann verwies nochmals auf die durchaus im Buch berücksichtigte Komplexität der Materie, ohne indes ihre Kritiker milder stimmen zu können. Sie ärgerten sich halt.
Man könnte den Vorwurf der Einseitigkeit mit der Bemerkung abbügeln, erzählende Literatur sei nicht dazu erfunden worden, es allen recht zu machen und jene mysteriöse „Objektivität“ walten zu lassen, die wir gemeinhin von Produkten journalistischer und wissenschaftlicher Arbeit erwarten. Und natürlich nicht bekommen können. Auch eine 45minütige Dokumentation über deutsche Jugendämter muss zwangsläufig zur „Erzählung“ gerinnen, aller bemühten „Ausgewogenheit“ zum Trotz. Wir könnten also froh sein, dass auf jedem Kriminalroman das imaginäre „Diese Geschichte ist wahrscheinlich unausgewogen!“ steht. Das unterscheidet Krimis etwa vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dessen „Ausgewogenheit“ längst zu Beliebigkeit und Langeweile verkommen ist.
Politisch korrekt ist das selbstverständlich nicht. Aber, mal ehrlich, wer möchte einen politisch korrekten Krimi lesen? Einen Jugendamtsthriller, der bei jeder drohenden Einseitigkeit sich sofort auf die andere Seite wendet, um auch sie zu ihrem Recht kommen zu lassen? Kriminalliteratur (es gilt auch für sämtliche sonstige Belletristik) ist per definitionem Zuspitzung. Und genau dann mit großer Wahrscheinlichkeit misslungen, wenn sie allen gefällt. Das liegt am wenigsten noch an der in unserem Jugendamtsbeispiel erwähnten Komplexität. Die, keine Frage, innerhalb eines Krimis angedeutet werden kann, aber eben nicht angedeutet werden muss. Als Autor von Kriminalromanen bewege ich mich von vornherein in den Extremen. Morde geschehen, Menschen geraten in höchste Gewissens- und Existenznot, agieren außer Kontrolle, tun Dinge, von denen sie niemals geglaubt hätten, sie zu tun. Wenn ich mir ein Thema aussuche, muss ich wissen: Genau hier, in den Extremen werde ich meine Geschichte spielen lassen. Ich werde meinen Lesern etwas zeigen, aber nicht „erklären“, wie man den Gebrauch einer Waschmaschine, eines Toasters erklärt. Dabei darf ich durchaus parteiisch sein, ja, ich muss es sogar, wenn mir der Sinn danach steht, in der öffentlichen Meinung allzu simplifizierte Tatbestände in ihrer auf mannigfacher Dialektik beruhenden Komplexität kenntlich zu machen. Sehr verkürzt ausgedrückt: Wenn alle Welt den Zustand A für „gut“ hält, nenne ich ihn „schlecht“. Und umgekehrt. Mein Text wird beweisen müssen, ob dies der Natur einer Sache, eines Ereignisses, eines Dogmas dienlich ist – oder lediglich Attitüde bleibt.
Kriminalliteratur, die sich um Ausgewogenheit bemüht oder generell Themen meidet, bei deren Zurkenntnisnahme sich mancher auf den legendären Schlips getreten fühlt, ist bestenfalls unterhaltsam. Was nicht das Schlechteste ist, keineswegs. Aber eben nur eine Facette von Kriminalliteratur. Die andere ist ihre Unberechenbarkeit, ihre Parteinahme, ihr manchmal rüdes Benehmen gegenüber Institutionen, liebgewonnenen Ansichten und allem, was „staatserhaltend“ sein soll.
dpr