München, Zenith. 29.11.1997
Maschinen für die Massen
„Seltsame Dinge passieren in einer Musik, die wir früher einmal, vielleicht voreilig, als Techno belächelt und abgetan haben“ bemerkte der „Rolling Stone“ in seiner April-Ausgabe. Und richtig: Daß zum Beispiel die englische Band „The Prodigy“ zu einem der wichtigsten Acts wurde – bei Konzerten wie auch am Plattenmarkt – sahen wenige voraus. Ein exzellenter Kurzauftritt beim „Go Bang!“-Open-air im Sommer ließ auf die Tour im November hoffen.
Am Samstag abend war`s soweit, „The Prodigy“ traten in der ausverkauften Kulturhalle Zenith in München vor etwa 6000 Fans mit gewohnter Power und Aggressivität an. Das Umfeld: Eine weite, hohe Industriehalle, hinter der Bühne eine gigantische Wand aus konzentrischen Metallkreisen, die aussieht wie die Abstellkammer H. R. Gigers. Die Musik: Laut. Als die ersten Baßwellen durch die Halle fluten und wie kleine Handgranaten in den Lungenflügeln explodieren, stockt im wahrsten Sinne des Wortes der Atem.
Brachial, konsequent, mitreißend – Adjektive, die die Musik von „The Prodigy“ charakterisieren. Mit einer einzigartigen Symbiose aus Punk, Underground, HipHop, Dance und Rock nehmen sich die Engländer das Beste aus jeder Gattung heraus und verquicken es zu aggressiven, knallharten Songs.
Hits wie „Firestarter“ oder „Smack my bitch up“ rissen das Publikum zu spontanen Begeisterungsstürmen hin, die so gar nicht in die Szene passen wollten. Richtig, ein Gruppengefühl stellte sich trotz der Anwesenheit von tausenden zumindest musikalisch Gleichgesinnten nicht ein – kalt war`s, und jeder blieb für sich allein.
Doch das ist nicht ausschließlich das Verschulden der Neo-Punks von „The Prodigy“, es zeigt nur, wie die Musik ausstrahlt. Die Aggressivität der Beats versandet nicht spurlos, peitscht auf und versetzt in Unruhe, individualisiert gleichermaßen. „Prodigy“ legen konsequent die Spur zu ihrem musikalischen Universum, provozierend, virtuos, neu und überzeugend. Sie fordern jeden Zuhörer heraus, seinen Standort zu bestimmen, sich im virtuosen Stilmix der Band eine Nische zu suchen. Wohin die musikalische Fahrt, die „Prodigy“ vor ein paar Jahren begannen, führt, ist dennoch nicht absehbar. Die Band kann gleichermaßen den Abgesang der technisierten Musik, der Maschinen für die Massen, einläuten wie auch Tür und Tor für eine neue Musikgattung öffnen. Die Diskussion, welche Beats oder Riffs im dritten Jahrtausend erklingen, ist eröffnet.