Ein Text zur Aufbewahrung in der Toilette
Typische KloleserlektüreIm Gespräch mit einer Bekannten aus dem virtuellen Raum ergab sich das Thema der Toilettenlektüre und was man als Gast daraus erlesen kann. Es ist ja so, dass die Sitte, auf dem stillen Örtchen der Lektüre zu frönen, recht verbreitet ist. Jüngere Kloleser stapeln gerne Stadtmagazine und andere junge Erzeugnisse der gedruckten Presse neben der Schüssel, die die Erleichterung bedeutet. Das „Soda“, das „forecast“, leicht erotische Comics von Milo Manara und so weiter. Die Betreiber solcher Toiletten legen wert darauf, dass der Gast weiss: „Hier wird im offiziellen Wohnbereich richtiger Lektüre nachgegangen. Du, Gast, befindest dich in gebildetem, gemässigt trendigem Umfeld. Wir möchten aber, dass du dich auch wohl fühlst, wenn wir gerade nicht für dich sorgen können.“
Niemand, der tagsüber irgendwelchen Studien nachgeht, wird das Obligationenrecht oder ähnliche Bücher in ein extra angefertigtes Regal in Griffnähe vom Thron in der Toilette deponieren. Statt dessen teilt man mit, dass man ein Lebenskünstler ist mit Interessen am Geschehen auf der städtischen Szene. Im Gespräch wird man immer sagen können: „Ah, dies oder jenes habe ich während meiner Klolektüre aufgeschnappt.“ Als ehemaliger Mitarbeiter von Stadtmagazinen kann ich Ihnen versichern: Meine Texte wurde praktisch nur auf Toiletten gelesen. Das ist auch gar nichts Schlechtes, denn es handelt sich um eine nette, tolerante Zielgruppe.
Schwieriger wird es, wenn neben dem Porzellantopf mit Spülung schwergewichtige Modemagazine liegen. Erstens weiss man spätestens in diesem Moment: „Hilfe, ich bin bei Modeopfern zu Gast. Was hab ich wohl schon alles falsch gemacht, und bin ich richtig angezogen?“ Zweitens wirft man verstohlen einen Blick auf das Datum der zwischengelagerten „Vogue“ oder „Elle“. Datieren sie aus dem Jahr 1996, denkt man an die vielen Menschen, die das Ding schon angefasst haben, man inspiziert das Magazin auf Schmuddeligkeit, man legt den schon etwas abgegriffenen Wälzer mit der Mode von vorgestern leicht angewidert hin. „Können die sich nichts Neues leisten?“ Ist es aus dem Vormonat, fühlt man sich plötzlich wie im Wartezimmer des Zahnarztes. Und stammt es gar aus dem laufenden Monat, wird man vor Ehrfurcht erzittern, ein paar Seiten ansehen und das ganze für eine prahlerische Verschwendung halten: Deplazierter Versuch zur ästhetischen Bewältigung des Verdauungsprozesses. Am schlimmsten sind ganze Sammlungen unterschiedlich vergilbter, unterschiedlich staubiger Modeheftli-Jahrgänge. Ich muss sagen, dass mich diese Stapel schaudern machen in ihrer Unaufgeräumtheit. Ihre Besitzer sind zu geizig, die teuren Heftli dorthin zu bringen, wohin sie gehören, nämlich ins Recycling.
Ebenfalls übel sind die Wohnungen von Männern, die zu zweit oder allein hausen und die sich einen Scherz daraus machen, ihr Singledasein in fünf, sechs Ausgaben von „Playboy“ oder „Hustler“ zu thematisieren. Sie setzen damit Gegengewichte zu den „Vogues“ in Frauenwohnungen. Je nach Weltgewandtheit der Herren wird es sich wenigstens um US-amerikanische oder japanische Ausgaben handeln. Haushalte, in deren Toiletten man die „Praline“ oder „Coupe“ findet, sind konsequent zu meiden. Als fantasielos sind Leute einzustufen, die auf der Toilette Fertigprodukte lagern wie „Ein-Minuten-Geschichten“ oder gar speziell produzierte Bücher mit Texten zum Thema Verdauung. Gibt’s alles und kommt an Geschmacklosigkeit nur Toilettenpapier gleich, das mit Witzen bedruckt ist. Die sind nämlich meistens schlecht. Und wäre ich nicht leicht paranoid und würde es mich nicht stören, Dinge anzufassen, die leicht abgegriffen sind und etwas unhygienisch daherkommen, würde ich sicher ein gutes Witzbuch in meinem eigenen Kabäuschen deponieren. Zum Auswendiglernen, und damit ich nicht mehr alle selbst erzählen müsste.
Mein Traum dagegen wäre ein berührungsloser Bildschirm, auf dem Dias von vermischten Meldungen aus internationalen Zeitungen der letzten dreissig Jahre gezeigt werden. Das wäre gute, saubere Unterhaltung. Und wird bestimmt auch früher oder später realisiert, vielleicht sogar mit Münzeinwurf.
Ich musste die Diskussion mit meiner virtuellen Bekannten beenden, es rief mich das Bedürfnis, das Bad aufzusuchen. Die Frage, wer in unseren hektischen Tagen überhaupt lange genug in der Toilette eingeschlossen bleibt, um auch nur fünf aufeinanderfolgende Sätze zu lesen oder eine Strecke von Modeaufnahmen auf ihre Qualität zu untersuchen – sie blieb unerörtert. „Ich hab den Goethe, wo ich koethe“, witzelte ich schon halb auf dem Weg. „Das dürfte auf einen Bildungskomplex schliessen lassen“, gab die Schlagfertige zurück. Und wissen Sie was? Sie hat recht.