Das SO36 in Kreuzberg steht auf meiner Liste mit dem Pflichtprogramm. Vor 20 Jahren löste der Schuppen gerade im Saarland große Wanderungsbewegungen unter jungen Menschen aus. Immer wieder hör ich bei meinen Interviews mit ausgewanderten Saar-Künstlern: „und dann das Live-Programm im SO36…!“ Als bedürfe es keiner weiteren Erklärung. Legendär eben. Der Name Programm. Ein Mythos. Jaja, das SO36…, wiegt der Chefredakteur wissend das Haupt. Und jetzt reicht´s mir. Ich will wissen, was es damit auf sich hat, mit diesem SO36. Dem früheren Punk-Club. Einmal selbst dringewesen sein. Mitreden können. Wenn auch spät.
„Oranienstraße, hier lebt der Koran. Dahinten fängt die Mauer an.“
(Ideal)
Ich hab Glück, nach Jahren der Schließung ist das SO36 gerade mal wieder auf, und es steht sogar ein Live-Konzert an. Genauso hatte ich es mir immer vorgestellt: enge Straßen, dichtbesiedelt, winzige Läden und jedes freie Stück Wand vollplakatiert. Nur die Mauer ist weg. Und Anette Humpe. Aber die Oranienstraße ist noch da. Bunt, gammelig und voll Patina. Wenn man nicht genau hinsieht, läuft man am Haus mit dem kleinen schwarzweißen Schild leicht vorbei. Mit dem Auto suchend die Straße abzufahren, hilft garnichts, denn heute Abend steht zum Beispiel ein kleiner Bus vor dem Laden, und schon sieht man das Schild gar nicht mehr. Aber wir suchen ja auch nicht das SO36, sondern einen Parkplatz. Ich bin mit Ortskundigen hier. Christoph und Viola von den Hommes Sauvages. Christoph ist Saarländer, Viola Berlinerin. Aus Wedding, aber ganz am Rand, fast schon – Achtung, jetzt kommt mein Lieblingsname unter den Berliner Stadtteilen: – Britz! Als wir einparken, hab ich halb Kreuzberg gesehen. Und wahrscheinlich sogar das „coole“ Kreuzberg. Meine Freundin Angelika wohnt auch in Kreuzberg, extra hingezogen, und sie gesteht mir etwas verschämt ein, es gäbe „zwei Kreuzbergs, mit zwei verschiedenen Postleitzahlen, eins mit 36, das ´coole´ Kreuzberg, und eins mit 61, das ´uncoole´“. Sie wohnt in dem mit 61.
Der Mann, der im SO36 auftritt, heißt Thomas D. Es ist seine erste Solo-Tour, und sie ist aufgeteilt in einen Club- und einen Hallen-Teil. Das SO36 ist ein Club. Weil Christoph auf dem aktuellen Thomas D.-Album Gitarre spielt, stehen Viola und er auf der Gästeliste. Ich nicht, aber ich bin Journalistin. Und in erster Linie wegen der Lokalität da. DAS ist also das BERÜHMTE SO36! Ich wurschtel mich durch einen langen Gang mit Plakatfetzen und Graffiti an der Wand, vorbei an Toiletten und Kartenkontrollen, und dann bin ich drin. Das erste, was ich sehe, ist nichts. Es ist dunkel und stickig, ich ahne einen Pulk von Menschen, der zum Teil auf Bänken an der Wand steht. Der Raum sieht wie ein Schlauch aus, und am Ende – irgendwo weit weg – ist eine Bühne. Auf der turnt, in blaues Licht getaucht, der Reflektorfalke.
Ich stehe ganz hinten an der Theke, gleich neben der Tür. Weiter hab ich es nicht geschafft, aber das macht auch nichts. An der Theke ist es ohnehin viel interessanter, denn dort geht auch Rod Gonzales vorbei. Rod von den Ärzten. Kommt erst, als Thomas D. schon eine Stunde auf der Bühne steht, geht wieder raus und wieder rein. Ist kein solch eifriger Clacqeur wie der zerzauste Blonde am Tresen, der demonstrativ jeden Song beklatscht. Er heißt Ralf Goldkind und war früher der Mann bei Lucilectric. Außerdem hat er das aktuelle Album von D. produziert und leitet die zugehörige Tour. Ich finde, er hat seine Sache ordentlich gemacht, aber nach einer Stunde hab ich genug „gesehen“. Ich erinnere mich, dass ich ja nur wegen der Lokalität da bin, und fahre zurück ins Hotel.
Der Chefredakteur ist zu Besuch. Er hat schon die Kuppel gesehen, die Bundespressekonferenz und die Hackeschen Höfe. Jetzt fährt er mit mir in der U-Bahn nach Neukölln. An der Decke des Wagon hängen zwei Monitore. Das sogenannte „Berliner Fenster“. Eine Art Zeitung im Fernsehen, die vor allem Werbung sendet, aber ab und an auch ein paar Infos dazwischenstreut. Auf dieser Fahrt lese ich: Todesfalle Feuertreppe. Das ist genau die Info, die ich brauche, aber es kommt noch besser: Toter im Forum-Hotel. Das ist MEIN Hotel! Ich falle fast neben dem Chefredakteur in Ohnmacht, aber das Berliner Fenster löst seine reißerische Ankündigung auf, und dahinter verbirgt sich nicht etwa ein Hotelbrand in meiner Abwesenheit, sondern etwas viel Kurioseres: ein knapp über 60-jähriger Hotelgast aus Brasilien hat sich im 37. Stock verlaufen und ist auf der Feuertreppe gelandet. Nun haben Türen an Feuertreppen ja die blöde Angewohnheit, sich nur an manchen Stellen nach innen öffnen zu lassen, sonst könnte ja jeder munter reinspazieren. In erster Linie sollen aber nur die rausspazieren können, die etwa an einem Brand im Innern Anstoß nehmen. Dieser Brasilianer war nun auf der Suche nach einer Tür, die ihn zurück ins Hotel führte, und dass er keine fand, beunruhigte ihn so sehr, dass er einen Herzinfarkt bekam und auf der Stelle starb.
Ich hab ein Wochenende zu füllen, an dem niemand Zeit hat. Das ist meine Chance. Beim Zappen im Hotelzimmer bin ich beim SFB hängengeblieben. Es läuft „Drei Damen vom Grill“. Das hab ich zuletzt gesehen, als ich Abi gemacht hab. Oma, Mutter, Tochter parieren ranzige Rostwürste, schmierige Schürzenjäger und das Schicksal. Mitten auf dem Steubenplatz. Da muss ich hin. Am Sonntagmorgen fahr ich fast zwanzig S-Bahn-Stationen nach Neu-Westend. Die letzte vorm Olympiastadion. Ich steige in einem Vorstadtviertel aus, Neu-Westend ist Kleinstadt pur. Und der Steubenplatz Park und Verkehrsinsel in einem. Mit Blumenrabatten, Rasen und Bänken. Es ist gediegen und ruhig, kein Hälmchen regt sich, zwei Bäcker, Butter-Geschäfte, Matrazenstudio und Metzger drumherum. Eine alte Oma führt ihren Hund aus. Drei Damen vom Grill? Klar, die wurden hier gedreht. Aber nicht auf dem Platz, sondern auf dem schmalen Grünstreifen einer Allee, die vom Steubenplatz abgeht. Da stand die Würstchenbude. Und die Anwohner wollten dort Würstchen kaufen. Aber das ging nicht. War ja nur Kulisse. Alle waren sie da. Die Mira, der Juhnke, der Pfitzmann… Oh, Sie sind vom Saarländischen Rundfunk? Ja, ihr Bruder hat auch mal in Saarbrücken gearbeitet. Zwei Jahre, bei der Post. Noch vorm Krieg war das, war schließlich fast 15 Jahre älter, der Bruder. Für den Sender Saarbrücken war er damals zuständig, als Techniker, und eines Tages hat er einen Fehler gemacht. Da war beim Sender Saarbrücken zehn Minuten Funkstille. Das gab Ärger.
Ich zieh weiter auf meiner Vorabendprogramm-Sightseeing-Tour, wie der Chefredakteur es nennt. Das Gleisdreieck sieht aus wie eine Industriehalde, die langsam begrünt. Aber für mich ist Gleisdreieck nur der sieche Klaus Schwarzkopf, grandios in der Rolle des langhaarigen Penners. Und eine Station weiter bin ich auch schon dort, wo´s Gleisdreieck immer hinzog: an den Bülowbogen. Den Bogen hab ich also, auch die roter Klinker-Kirche aus dem Vorspann, nur auf die Praxis hab ich auch am Ende noch mehrere Optionen. Bülowstraße, sagt ein junger Alternativer. Ein weißes Gründerjahre-Prunkhaus, an dem tatsächlich ein riesiges Schild verkündet: Praxen am Bülowbogen. Ich bin nicht überzeugt. Von den Mülltonnen hinterm Maschendrahtzaun schickt mich ein Mann zur Ziethenstraße. Im verkehrsberuhigten Teil. Dort könne man an einem Haus noch die Löcher sehen, wo zum Drehen immer das Praxisschild angeschraubt wurde. Ich laufe die gesamte Ziethenstraße ab, kneife die Augen zusammen und stelle mir Anita Kupsch vor jedem Haus vor, hysterisch die Tür abschließend. Löcher finde ich nicht. Und die Türken, die ihre Autos zur Fahrt ins Grüne bepacken, gucken mich nur groß an. Praxis Bülowbogen? Ganz Schöneberg ist fest in türkischer Hand, eigentlich hätte die Serie heißen müssen „Dönerbude Bülowbogen“. Mit Günthür Pfützmünn. Ich fahr wieder ins Hotel.
Heute abend geh ich ins Theater am Schiffbauerdamm. Oder Brecht-Theater, wie die Stadtführer ins Mikrophon plaudern, wenn sie mit dem Touristenbbot dran vorbeischippern. Ich hab die Auswahl: Richard der Dritte oder Erich Fried zum Achtzigsten. Ich gehe kurz in mich und komme zu dem Schluß, dass ich keine Theaterschlampe sondern Literaturwissenschaftlerin bin. Fried also. Am Theater selbst hängt schon ein großes Transparent. Heute: Erich Fried. Von ihm selbst unterkritzelt. Mit riesigem, schwarzem Edding. Wenn das ernst zu nehmen ist, riecht das nicht so gut, denk ich mir und nehme sicherheitshalber einen Platz ganz weit weg von der Bühne: dritte Reihe, erster Rang. Kompletter Titel des Programms: „Erich Fried erzählt Angela Merkel wie es wirklich war. Klaus Wagenbach hat´s zusammengestellt“. Wagenbach, oha. Ein Zusammensteller vor dem Herrn. „… und unsere Texte sind auch in einem Buch drin, das der Klaus Wagenbach mal zusammengestellt hat“, flochten viele Kabarettistinnen betont beiläufig ein, als ich sie damals interviewte. Im zweiten Semester, für mein Referat über Frauenkabarett. Linker Verleger, das, fällt mir ein. Hat sicher mal die Meinhof versteckt oder klammöffentlich mit ihr sympathisiert. Zu Fried fällt mir fast das gleiche ein. Nur dass er eben Gedichte geschrieben hat. Vor mir an der Kasse steht noch ein älteres Ehepaar und kann sich nicht entscheiden. Macht nix, der Kassierer telefoniert ohnehin gerade: Ja, da gibt´s noch Karten. Mit Christoph Reitze, Veith Schubert, blabla und George Tabori… Was ist das, wovon Sie gerade sprachen?, fragt der ältere Ehemann, hellhörig geworden, als der Kassierer auflegt. Erich Fried. Ach so. Zweimal Richard der Dritte, bitte.