Eigentlich hatte ich mit dem Rezensieren von Tonträgern abgeschlossen, erschien mir die Flut von zahllosen Veröffentlichungen so groß, daß sich nur wenige Platten von dem Grand Oeuvre abzuheben schienen. In diesem Fall blieb mir keine andere Wahl: Ich muß hier und jetzt eine überlange Rezension ins Auge fassen, da es sich bei ‚OK Computer‘ um einen der besonderen Momente im heutigen Musikgeschehen handelt.
Schon die ersten beiden Alben von Radiohead, ‚Pablo Honey‘ (1993) und (vor allem) ‚The Bends‘ (1995) waren Ausnahmeerscheinungen in der ansonsten von heiteren Klängen reich gesegneten britischen Musikszene. Die Parameter der Radioheadschen Herangehensweise stehen dem experimentellen Rock viel näher, als daß man sie einfach in die gängige Britpopschublade stopfen könnte. Harsche und laute Gitarren (gleich drei Gitarristen), ein oftmals mächtiges Schlagzeug, das ganz und gar nicht raven mag und – darüber thronend – der einzigartige, stark expressive Gesang Thom Yorkes.
Expressivität darf hier nicht mit dem Geschmachte eines Bono Vox gleichgesetzt werden, denn wenn Yorke eine leidende Stimmung vortragen will, dann tut er dies derart überzeugend, daß man ihn am Boden windend vor dem geistigen Auge hat. Es ist nicht zu beschreiben, wie unpeinlich Pathos sein kann, man muß einfach zuhören, wenn es so überzeugend dageboten wird.
Als ‚The Bends‘ im März 1995 auf den Markt geworfen wurde, waren sich viele Kritiker einig: Das werden die neuen U2! Welch eine Fehleinschätzung! Während U2 als eine der letzten abgetakelten britischen Rockbands versuchen, sich durch das Aufgreifen aktueller Trends (siehe Underworld oder The Prodigy) an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der Bedeutungslosigkeit zu ziehen, setzen Radiohead Maßstäbe.
Zum Album:
Zu ‚The Bends‘ gab es, nicht zuletzt durch zahlreiche Interviews bestätigt, haufenweise Informationen über die qualvolle Entstehungsweise des Albums. Nach dem Singleerfolg von ‚Creep‘ und unter dem Druck, etwas produzieren zu wollen, das die Band von dem Ein-Song-Image wegbringt, hätten sich Radiohead beinahe aufgelöst. Die Schwermütigkeit, das Kämpfen um jeden Millimeter Bandmaterial hört man ‚The Bends‘ an und das macht die Platte zu einem Meilenstein. Düster, depressiv, wütend und verzweifelt – das sind die Grundstimmungen von ‚The Bends‘. Das ‚Creep‘ – Image war lange nicht ver(sch)wunden und Thom Yorke, der sich dieses Lied einst selbst gewidmet hatte, verkündete, er werde zukünftig versuchen, positivere Songs zu schreiben, indem er sich auf die schönen Momente des Lebens konzentriert. Hört man nun ‚OK Computer‘, muß man feststellen, daß Thom Yorke immer noch keinen Ansatz gefunden hat, der seine Musik positiv klingen läßt – im Gegenteil, noch dunkler und verzweifelter, noch komplexer und weniger eingängig als die unkonventionelleren Stücke des Vorgängers, das macht diese dritte Platte aus; vergeblich ist das Warten auf eine fröhliche Dur-Harmonie!
Aufgenommen wurde von Juni 1996 bis März 1997 mit zahlreichen Unterbrechungen, bedingt durch Festival – Auftritte und eine U.S. Tour mit Alanis Morrisette. Das Studio blieb immer gleich, die Umgebung wurde gewechselt, das heißt ‚OK Computer‘ wurde an verschiedenen Plätzen mit mobilem Equipment und einer experimentellen Herangehensweise produziert. Illustre Plätze wie eine umgewandelte Scheune (‚Canned Applause‘) oder die Gemäuer eines alten Anwesens (‚St. Catherine´s Court‘) annimierten die Band dazu, eine Athmosphäre zu kreieren, die in einem normalen Studio nicht nachzustellen ist – mit Erfolg! ‚OK Computer‘ klingt homogen und trotzdem hat jedes Stück seine individuelle Note, sei es der extrem klare und weit im Vordergrund stehende Gesang in ‚Exit Music (For A Film)‘ oder das verzerrte Schlagzeug in ‚Airbag‘.
Zu den Songs:
Airbag: Ein Opener im Stil von ‚Planet Telex‘ auf ‚The Bends‘. Viele Bleeps und ein getriggertes Drum, das einen leichten Chemical Bros-Groove simuliert. Die Düsterheit der ganzen Platte wird angedeutet: Eine flirrende Gitarrenlinie schlängelt sich über einen angefunktem Basslauf, ansonsten viel Fläche, die durch Geräuschbreaks zerhackstückt wird.
Paranoid Android: Das unkommerziellste Stück auf ‚OK Computer‘, das tatsächlich zur Single auserkoren wurde. Mit einer Länge von 6:23 nicht gerade das übliche Format, aber auch vom Aufbau her nicht besonders eingängig. ‚Android Paranoid‘ ist eine kleine, moderne Rockoper im Stil der Mittsiebziger, mit einem Breakdown in der Mitte. Wenn sich der Gitarrenlärm erhebt, bleibt nur noch ein Klagelied, das mit seinem Trauerchor im Hintergrund als Soundtrack zur Neuverfilmung von Tolstois Krieg und Frieden dienen könnte. Dieser Part steigert sich ähnlich wie Queens ‚Bohemian Rapsody‘ bis die Band nochmal abrocken darf! Textlich sehr abstrakt gehalten, erwecken die Metaphern eine real-wirkende, paranoide Stimmung.
Subterranean Homesick Alien: Der schwebende Come-Down – fast schon einlullend, wären da nicht die surrenden und halligen Gitarren, die sich an anderen Geräuschen reiben und zusammenprallen. Der Gesang hört sich auch nicht sehr versöhnlich an; erinnert irgendwie an eine Katze die schon acht Leben hinter sich hat. Ähnlich einer Smashing Pumpkins-Ballade – Dynamik ist mal wieder die alte Erfolgsformel.
Exit Music (For A Film): Das traurigste Stück ever made! Der passende Film wäre ein Road Movie, der ein katastrophales Ende nimmt! ‚Exit Music‘ startet akustisch mit einem total im Vordergrund stehenden Thom Yorke. Der Song handelt vom Plan abzuhauen, ähnlich eines ‚She´s Leaving Home‘ von den Beatles, allerdings mit einem unversöhnlicheren Ende. Die Steigerung erfolgt mit einem sakralem Don Kosakenchor, der mit einem Mooggewaber zum theatralischen Höhepunkt verschmilzt. Danach kehrt wieder die Todesmessenstimmung ein. Auch für Fans alter Nick Cave-Stücke nicht uninteressant.
Let Down: Mein persönlicher Lieblingssong.
Groß und majestätisch erhebt sich das Streichorchester über den perlenden Gitarrenpickings und man möchte sich in diesem Pathos suhlen. Das Arrangement ist derart ausgefeilt, daß der 7/8tel Rhythmus im Mittelteil nichts von der vorhandenen Pompösität wegnimmt oder störend wirken könnte. Ein Song, der einer Kutschenfahrt in Sibirien gen Sonnenuntergang gleichkommt.
Karma Police: Und wieder ein geschickt positionierter Antipol. Im Gegensatz zu ‚Let Down‘ spartanisch arrangiert und einfach strukturiert. Das Schlagzeug hat die gewisse Bonham-Schwere, das Piano die Charakteristik einer späten Beatlesnummer à la ‚Let It Be‘ und der Gesang – wie könnte es anders sein – leidend. Ob sie doch eine zweite, fortschrittlichere Version von ‚Creep‘ geschrieben haben? – Sicherlich ungewollt!
Fitter Happier: Eine Comicstimme (klingt wie Homer Simpson) erzählt über eine dramatische Klangcollage eine Minute lang über ein universales Heilmittel. Sicher sowas wie ein Interlude.
Electioneering: Der einzige Rocker auf dem Album. Archaisch vom Feeling her – sogar vor dem Einsatz einer Kuhglocke wird nicht haltgemacht. Hat was vom Sonic Youthschen Verständnis wie Rock klingen soll – also sehr noisig und wiederum theatralisch inszeniert mit einem Gesang, der sich selbst in ungeahnte Höhen pitcht.
Climbing Up The Walls: Das Trip Hop-Stück von Radiohead. Mit einer Snare ohne Teppich, flächigen Gitarreneffekten und einer entrückten Stimme, die durch eine zweite, verzerrte in ungeahnte Gefilde vorstößt. Dann, nach einer Minute setzt eine Schweinegitarre überlaut ein, die wiederum von Geigenzittern und noch entrückterem Gesang übertönt wird. Dieses Szenario findet mit einem unheimlichen Geräuschsample sein abruptes Ende.
No Surprises: Ein im Gegensatz zu den restlichen Liedern, melodisches und hoffnungverbreitendes Stück. Die Kindermelodie des Glockenspiels erinnert an ein Lullaby. Thom Yorke klingt milde gestimmt, fast schon müde. Zeit die Schuhe auszuziehen und sich auf dem nächsten Sofa zu räkeln, mit der Bitte, nicht gestört oder böse überrascht zu werden.
Lucky: War der Beitrag zum Bosnien Benefiz-Sampler ‚Help‘! Traurig und getragen paßt dieses Stück zu einem zerstörten Sarajevo und man fühlt sich unweigerlich an die Kriegswirren in Ex-Jugoslawien erinnert. Diese dramatischen Chöre ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Platte. Hat am Ende eine Gitarrenlinie, der man länger zuhören möchte.
The Tourist: Ein unspektakuläres Ende eines spektakulären Albums. Auch hier können Paralellen zu ‚The Bends‘ gezogen werden. Der Charakter gleicht dem von ‚Fade Out‘, ein Crescendo, das zusammenfaßt, was man ohne Abnutzung (am besten gut gelaunt) hören kann.
Eine ganz große Platte, die den auf dem Abstellgleis stehenden Rockzug nochmal in Fahrt bringt.
Radiohead OK Computer (Parlophone)