Kulturredaktionen sind für gewöhnlich schnell zu schockieren. Kaum sind hundert Jahre vergangen, fordern irgendwelche modernistischen Wirrköpfe auch schon eine Anpassung der Rechtschreibung an die gegebenen Verhältnisse, ohne zu ahnen, daß sie damit alles tun, um die abendländische Kultur vom Rand der Scheibe zu schubsen. Und als ob das noch nicht genug wäre, bringt der Carlsen-Verlag jetzt den ersten naturbelassenen Manga im orignal japanischen Layout auf den deutschen Markt. Geradeso als ob sich ein Manga nicht vollständig eindeutschen ließe. Akira Toriyamas „Dragon Ball“ kommt im Taschenbuchformat daher und wird von hinten nach vorn und von rechts nach links gelesen. Marketing-Gag eines Comic-Verlags, um ein eher mäßiges Manga zu verkaufen oder das i-Tüpfelchen auf einem erstklassigen Manga-Genuß?
Doch nicht nur das Layout, auch der Inhalt unterscheidet sich von den Mangas, die der westliche Leser normalerweise zu Gesicht bekommt: Beim ersten flüchtigen Durchblättern des Manga (von hinten nach vorn natürlich!) fällt sofort auf, daß die Panels von „Dragon Ball“ nicht etwa von futuristischen Waffen, unter deren Last die zumeist minderjährigen Manga-Protagonisten gewöhnlich zusammenzubrechen drohen, sondern von witzig gezeichneten Figuren dominiert werden. Diese tummeln sich in einer phantasievollen Märchenwelt, die der unseren zumindestens in technischer Hinsicht weit überlegen ist.
Zu Beginn von „Dragon Ball“ lernen wir Son-Goku kennen, einen naiven zwölfjährigen Naturburschen mit einem Affenschwanz. Der Sonderling wurde fernab der Zivilisation ausgesetzt und dort von Son-Gohan aufgezogen, einem „Meister in allen Kampfstilen, der von niemandem übertroffen wurde“. Und über die Jahre hat er dieses Wissen seinen Zögling weitergegeben.
Son-Gokus tägliche Routine, die aus recht bizarr anmutenden Arten der körperlichen Ertüchtigung und der Nahrungsbeschaffung besteht, wird aber jäh durch eine Person unterbrochen, die Son-Goku instinktiv als Monster und somit gar nicht zu sehr zu Unrecht als Gefahrenquelle erkennt: Bulma, ein gewieftes sechzehnjähriges Mädchen, das seine Sommerferien dazu nutzen will, die sieben Drachenkugeln (Dragon Balls) zusammenzubringen. Denn, so berichtet die Legende, wer alle sieben Kugeln besitzt, hat einen Wunsch frei, der von dem göttlichen Drachen ShenLong erfüllt wird.
Und eben eine dieser Kugeln besitzt Son-Goku. Allerdings will sich dieser um nichts in der Welt von seiner Drachenkugel, dem letzten Erinnerungsstück an seinen „Großvater“ trennen. Nach erfolglosem Einsatz einer Pistole besinnt sich Bulma auf eine weitaus gefährlichere Waffe, mit deren Hilfe sie Son-Goku schließlich in einen Strudel von Abenteuern auf der Suche nach den restlichen Drachenkugeln zieht: den weiblichen Charme, um nicht gleich „Sex“ zu schreiben.
Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer: Ein nicht unwesentlicher Teil der Handlung zeigt eine recht eigenartige Einstellung gegenüber Sexualität. In Japan mag dies wahrscheinlich niemandem auffallen, geschweige denn stören, aber für europäische, speziell deutsche Verhältnisse sind die andauernden Anspielungen auf zumindestens aus westlicher Sicht typisch japanische Perversionen überzogen. (Um Mißverständnissen vorzubeugen: Das Wort „Perversion“ wird hier vollkommen wertfrei benutzt.)
Das gegenseitige Kennenlernen der beiden Helden, das von allerlei Mißverständnissen gegenüber dem anderen Geschlecht geprägt ist, parodiert recht witzig den in Japan üblichen Unterwäsche-Fetischismus und entlarvt ganz nebenbei die inflationäre Vermarktung der Sexualität minderjähriger Schulmädchen.
Anzunehmen, „Dragon Ball“ wäre eine speziell auf pubertierende Teenager zugeschnittene Ansammlung von Klischees in Sachen Sexualität, welche quasi nur nebenbei mit einem Schuß Abenteuer gewürzt ist, wäre allerdings zu kurz gedacht. „Dragon Ball“ zählt nicht umsonst allein schon in den Verkaufszahlen zur obersten Liga aller Mangas. Eine Flut von Video-Spielen, Zeichentrickabenteuern, Merchandisingartikeln sowie Nachfolgeprojekten wie „Dragon Ball X“ oder „Dragon Ball GT“ zeigen, daß „Dragon Ball“ in Japan eine riesige Fangemeinde gefunden hat. Doch auch weltweit braucht sich „Dragon Ball“ nicht zu verstecken. Wer sich zum Beispiel mit Hilfe einer Suchmaschine im Internet nach „Dragon Ball“ umsieht, wird zweifellos unter einer Lawine von Links erschlagen werden.
Carlsen bemüht sich nun, diesen Erfolg auch nach Deutschland zu importieren. Eine ausgeklügelte Marketingstrategie, in der der überraschend niedrige Preis nur einer von vielen Faktoren ist, zielt speziell auf die Altersgruppe der BRAVO-Leser. Doch auch in das Manga an sich wurde viel Arbeit investiert.
Das Team Iwamoto-Seebeck/Seebeck, das schon oft erstklassige Übersetzungen für Carlsen geliefert hat, bürgt ja mittlerweile für unverkrampfte, flüssig zu lesende Texte. Der Lesefluß des anspruchsvolleren Lesers wird allerdings schon auf Seite 6 jäh gestoppt: Zumindestens der Rezensent mußte sich hier Tränen des Schmerzes aus den Augen wischen, als er lesen mußte, daß Son-Goku gerade das „Holzha-cken“ beendet hat. Carlsen hat „Dragon Ball“ tatsächlich in vorauseilendem Gehorsam in rechtschreibreformierter Schreibung herausgegeben, was zum Glück im Laufe der Handlung nicht allzusehr auffällt.
Auch das Lettering von Gerhard Förster ist gut gelungen und läßt sich somit trotz des Taschenbuchformats sehr gut lesen. Ein störender Schnitzer findet sich allerdings im obersten Panel der Seite 36: Die Beschriftung des Hauses „HOIPOI-KAPSEL #1“ wirkt deplaziert fett, unperspektivisch und ragt außerdem leicht über das Haus hinaus. Auf den folgenden Seiten (z.B Seite 73) ist die englische Originalbeschriftung allerdings wiederhergestellt. Hatte ein aufmerksamer Bewohner des Dragon Ball-Universums etwa nicht nur Einsicht, sondern außerdem zufällig einen Eimer Farbe dabei?
Wie auch immer, „Dragon Ball“ ist ein angenehmer Lesespaß, der nicht nur für Teenager empfehlenswert ist. Jeder Leser, der auch nur entfernt neugierig auf das Manga ist, sollte sich einfach einen Ruck geben, und einen Zehnmarkschein in „Dragon Ball 1: Das Geheimnis der Drachenkugeln“ investieren. Ob er dann zu den weltweit Millionen zählenden Dragon Ball-Fans zählt und somit zum Erfolg dieses Manga in Deutschland beiträgt, bleibt abzuwarten.
Noch ein kleiner Verwirrungseffekt zum Schluß: „Dragon Ball“ kommt in zwei unterschiedlichen Ausgaben auf den Markt, eine für den Zeitschriftenhandel, eine für den Buchhandel, die allerdings erst in ein paar Wochen verfügbar sein wird. Einziger Unterschied zwischen beiden Versionen: Die Buchhandelsversion hat ein fortlaufendes Rückenmotiv, wie man es ja inzwischen von Disneys Lustigen Taschenbüchern kennt.
Akira Toriyama
DRAGON BALL - Das Geheimnis der Drachenkugeln
Carlsen 9,95 DM
ISBN 3-551-73251-5