Selten hat ein Lied mich vor seiner Veröffentlichung so neugierig gemacht wie Neil Youngs „Let’s Roll“. Drei verschiedene Schreiber der deutschen Version von „Rolling Stone“ haben sich in der April-Ausgabe damit beschäftigt, das Stück als patriotisches Gewäsch zu diskreditieren. Es geht um die Passagiere des United-Flugs 93 vom 11. September 2001, die ihre Entführer zwangen, das Flugzeug in den Boden zu fliegen, statt in das White House oder irgendein anderes Gebäude.
Ja, Neil singt „Let’s roll for freedom / Let’s roll for love / Going after Satan / On the wings of a dove“ und wurde dafür reichlich als Bush-Freund kritisiert. Die meisten Kritiker sehen das ähnlich wie Martin Johns, der in der Mai-Ausgabe von Intro schreibt: „Wenn es in diesem Lied mehr gibt, als stumpfe, unkritische Heldenverehrung bzw. den Anruf zur Aktiven Verteidigung amerikanischer Werte, muss es so subtil sein, dass es mir entgangen ist.“ Na ja, dachte ich, kann das wirklich so schlimm sein? Neils Lob für Reagan habe ich nicht vergessen, „Rockin in the Free World“ – treffender Sozialkommentar verkleidet als Nationalhymne – aber auch nicht.
Von den ersten Sekunden an, war mir eins klar: Auch wenn Johns Recht hat (was ich nicht ausschließe) und „Let’s Roll“ lediglich ein Aufruf zur Verteidigung Amerikas ist, ist das Lied kein Rock-Anthem. Mit seinem barschesten Gesang und dem Riff von David Bowie’s „Fame“ (nicht nur geklaut sondern auch verlangsamt), wird es Young mit „Let’s Roll“ nicht gelingen, die Fäuste der Konzertbesucher in die Luft zu bringen. (Eine These, die ich gerne persönlich beim Konzert bestätigt hätte, wenn die einzigen Möglichkeiten dazu nicht Rock am Ring bzw. im Park gewesen wären.) Und so viel Vertrauen kann ich Young noch schenken: wenn Demagogie sein Ziel gewesen wäre, hätte er es erreicht. Was auch immer Young mit dem Lied sagen will, er sagt es ganz absichtlich mit mehr Trauer als Wut, mehr Zweifel als Überheblichkeit. Das hört man in der Musik.
Meine Theorie: Man muss „Let’s Roll“ im Zusammenhang des ganzen Albums „Are You Passionate?“ anhören, da die ersten fünf Lieder der Platte eine Geschichte erzählen. Und zwar von einem Mann, der nichts mehr zu verlieren hat, als er beim fünften Lied – Let’s Roll – in die Maschine einsteigt. Die Stimme, die am Anfang von „Let’s Roll“ grollt, „I know I said I love you / I know you know you know it’s true“ ist von Ton und Timbre her die gleiche, die in „Quit“ der Partnerin gesteht, „And I’ve got to tell you baby / That our love is strong / And I’m the one / The one who did you wrong“. Diese Figur hat verdienterweise ihre große Liebe verloren („And my love could come to blows“ ist der ominöse Hinwies auf Familiengewalt in „Differently“) und tut sich schwer aufzugeben („I’m never quittin‘ you / Even if you quit me“). Also, kein Held, den man verehrt, eher ein Typ, der nur noch hofft ein einziges Mal eine gute Tat zu tun, bevor er stirbt (wie Dylan es in „Lily, Rosemary and the Jack of Hearts“ ausdrückte). In „Let’s Roll“ kriegt er diese Chance und verspielt sie nicht.
Eine wackelige Theorie, gebe ich zu. Aber so oder so wirkt „Let’s Roll“ wie der tragische Höhepunkt, der zu früh kommt. Das von Crazy Horse eingespielte Stück „Goin‘ Home“ ist das einzige Highlight in der zweiten Hälfte von „Are You Passionate?“. (Da das Lied laut Young schon im Herbst 2000 aufgenommen wurde, wirken die ersten Strophen etwas ahnungsvoll: „Such a wind was blowin‘ that day / through the battleground / I could feel it in my hair /As I turned toward downtown“.)
Vielleicht hätte ein Quäntchen mehr Crazy Horse zur Abwechslung dem Album gut getan. Die Begleitung von Soul-Organist Booker T. hat einen perversen Charme, besonders wenn Booker und Bassist Duck Dunn ihre raffinierten Otis Redding-Riffs spielen, während Neil und Frank Sampedro ihre plappernden Gitarren erdrosseln. Eine sehr interessante Zusammenstellung, die allerdings ihren Reiz nach 30 oder 40 Minuten verliert. Und deshalb bleibt „Let’s Roll“ das einprägsamste Lied auf einem merkwürdigen, betrübten Album.
Neil Young: Are You Passionate? (Reprise Records)