Crime School: Lektion 5

Einige von euch mögen sich fragen, warum in einer Schule, die sich dezidiert dem Krimi widmen möchte, bis jetzt nicht ein wirklicher Vertreter dieses Genres aufgetaucht ist. Nicht einmal die Klassiker. Die Antwort ist einfach.

Der „Kriminalroman“ ist ein literarisches Genre, also eine Untergattung der Belletristik, beinahe eine special-interest-Nische, wenngleich eine große. Per se ist der Krimi stets unterhalb dessen angesiedelt, was als „hohe Literatur“ firmiert. Genre eben, so wie Jack London zum Genre des Abenteuerromans zählt oder Jules Verne mal als Jugend-, mal als SF-Autor herhalten muss. Die Kritik des Kriminalromans erfolgt meist in diesen engen Grenzen. Dass seine Elemente indes auch anderswo, in besagter „hoher Literatur“ eben, vorkommen, wird meist unter den Tisch gekehrt. Dabei können wir gerade hier eine Menge lernen. Und zweitens: Es geht uns ja nicht nur um den Krimi und wie man herausfindet, ob er gelungen oder misslungen ist. Es geht auch um das Lesen an sich, das selbst bereits Detektivarbeit sein kann, wie in der letzten Folge beschrieben.

Heute widmen wir uns einem Autor, der zeitlebens Krimiverächter war. Zitieren wir ihn zum Beweis:

„(…) die Millionen-Beliebtheit des >Krimi<, ob Buch ob Fernsehen, spricht gleichzeitig das künstlerische Todesurteil über ihn. (…) Natürlich muss es dergleichen >geben<: das Volk hat sein Anrecht auf Unterhaltung! Nur wäre ihm vielleicht, ab & zu, zu bedeuten: daß es sich bei seinem Zeitvertreib nicht um Kunst handele, sondern um Kindernahrung.“


Eindeutige Worte. Sie lassen sich aber schon gleich etwas relativieren, wenn man sich den Kontext anschaut, in dem sie stehen: eine sehr positive, geradezu marktschreierische Würdigung von Wilkie Collins, dessen Hauptwerk „Die Frau in Weiß“ er soeben ins Deutsche übertragen hatte. Wir sprechen, unsere Germanistikstudenten haben es längst erraten, von

Arno Schmidt, dem menschgewordenen Krimi.

Arno Schmidt, der Krimis nicht mochte, hat zwei Romane verfasst, die nicht nur dankbar auf Errungenschaften des Genres zurückgreifen, sondern deren Plots ganz in der Tradition des Krimis stehen: „Die Gelehrtenrepublik“ (1957) und „KAFF auch Mare Crisium“ (1960).
„Die Gelehrtenrepublik“ spielt im Jahr 2008, ist also, wenn wir es schön genremäßig nehmen wollen, SF. Der Ich-Erzähler, ein Journalist namens Charles Henry Winer, soll über die IRAS berichten, eine künstliche Insel im Pazifik, auf der Künstler und Wissenschaftler aus aller Welt leben und arbeiten. Diese Welt ist infolge eines atomaren Krieges teilweise zerstrahlt. In einem Ballon muss Winer der sogenannten „Hominidenstreifen“ überfliegen, ein verseuchtes Gebiet, in dem sich neben schrecklichem Getier auch eine Zentaurenart entwickelt hat. Sabotage zwingt Winer, im Streifen zu landen. Er lernt Thalja, eine junge Zentaurin kennen und weiß bald darauf, wie es ist, eine Frau mit dem Körper eines Pferdes physisch zu lieben. Auf IRAS angekommen, entpuppt sich die schöne ätherische Welt der Wissenschaften und Künste rasch als trügerisch. Winer kommt einer unglaublichen Geschichte auf die Spur…

Wie alle Texte Schmidts, ist auch „die Gelehrtenrepublik“ ein literarisches Beziehungsgeflecht besonderen Ranges. Der Roman fußt auf der „Propellerinsel“ von Jules Verne, es gibt Reminiszenzen an Karl May und andere, der Held selbst wird als Urgroßneffe des Autors eingeführt. Die Anleihen an den Krimi sind eher konventionell: böse Mächte, die etwas vertuschen wollen, und dann, am Ende, das schier Unglaubliche, an dem natürlich wieder einmal die Russen Schuld haben, wie in den 50ern nicht anders zu erwarten (dass Schmidt kein kalter Krieger war, sei hier nur am Rande erwähnt; seine Beurteilung der Situation ist erstaunlich vielschichtig).

Ähnlich wie in der „Gelehrtenrepublik“ sind auch in „Kaff“ die Russen die Bösewichte. Der Roman spielt auf zwei Ebenen: einer „realen“ Jetztzeit-Ebene in einem Kaff in der Lüneburger Heide, wo der Ich-Erzähler Karl mit seiner Freundin im Haus einer Tante einige Urlaubstage verbringt sowie einer „fiktiven“, wieder „utopischen“ Ebene, auf dem Mond nämlich. Hier leben, nach der obligatorischen Atomkatastrophe Amerikaner und Russen in zwei getrennten Kolonien. Der Amerikaner Charles kommt abermals einem unglaublichen Verbrechen auf die Spur.

Beide Romane besitzen also offensichtliche thematische und dramaturgische Berührungspunkte, doch eines unterscheidet sie grundlegend: die Darstellung der „Wirklichkeit“. „Die Gelehrtenrepublik“ ist ein genremäßiger Mix aus SF und Krimi mit durchaus aktuellpolitischen Analogien. „Kaff“ trennt, auch optisch „Wirklichkeit“ und „Fiktion“.

Hier füge ich ein kleines aside ein und verweise auf die parallel zur Crime School geführte Diskussion über die Behandlung der Realität in Kriminalromanen in Ludger Menkes → Nachtbuch. Ausgelöst habe ich diese erfreuliche Diskussion selbst, und zwar mit meiner Behauptung, allzu scharfes Nachdenken über Realismus in der Literatur sei, mit Verlaub, dummes Zeug, da Literatur naturgemäß Wirklichkeit konstituiere. Man kann es auch umdrehen und behaupten, Literatur sei Fiktion, weil Wirklichkeit, die mit Sprache beschrieben werde (geht es auch anders?), eben auch Fiktion sei. Sei’s drum. Es hat in den 80er Jahren eine „Realismusdebatte“ gegeben, und Arno Schmidt, der wie kein zweiter Autor dieses Jahrhunderts, Wirklichkeit beschrieben hat, stand als eines der Forschungsobjekte im Mittelpunkt. Es war eine fruchtlose Debatte. Ich schrieb damals eine eigene Zeitschrift mit Arbeiten über Arno Schmidt voll (längst vergriffen) und habe mich auf meine Weise an dieser Debatte beteiligt, indem ich versucht habe, die Instanz „Autor“ aus dem Werk zu schälen und sie selbst als „fiktiv“ zu überführen, eine Inszenierung des „empirischen Autors“ Arno Schmidt gewissermaßen. Dies wirklich nur am Rande, aber seitdem ist es mir ziemlich wurscht, ob Realismus oder Fiktion. Texte sind wirklich, und die sogenannte Wirklichkeit ist eine Inszenierung eines jeden, der sich in dieser Wirklichkeit als Subjekt definiert. Erinnerungen spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle, sie sind desgleichen „Fiktion“, weil hergerichtet, oder, „Wirklichkeit“, weil die Wirklichkeit desjenigen, der sich erinnert.

Zurück zu „Kaff“. Wir haben auch hier einen scheinbar konventionellen Einsatz krimispezifischer Strategien, doch das täuscht. Die Erzählungen vom Mond sind mitnichten SF, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Sie sind vielmehr Therapie, denn Karl erzählt seiner Freundin nur deshalb die Geschichte von den Menschen auf dem Mond, um sie, nun ja, zu „enthemmen“. Sie leidet nämlich seit einem sexuellen Missbrauch an einer „Verklemmtheit“.

Auf einer allgemeineren Ebene sind die Geschehnisse auf dem Mond eine psychoanalytisch durchgeführte Bestandsaufnahme, die beiden beteiligten Hauptpersonen betreffend. Das hat, unter anderem, die Arno-Schmidt-Forschung bewiesen, und jetzt kommen wir zum eigentlichen Grund, warum wir Arno Schmidt in der Crime School vorstellen.

Am Beispiel von Vladimir Nabokovs „Lolita“ haben wir gesehen, wie uns ein Text dazu bringen kann, selbst zu Detektiven zu werden, um sein Geheimnis zu ergründen. Im Falle Arno Schmidts ist dies eskaliert. Schon Anfang der Siebziger Jahre wurde, kurz nach dem Erscheinen von Schmidts voluminösem Hauptwerk „Zettels Traum“, das „Arno Schmidt Dechiffriersyndikat“ gegründet, das es sich zum Ziel gesetzt hat, alle Winkel des Buches auszuleuchten, jede Anspielung zu identifizieren. Bis heute veröffentlichen Forscher ihre diesbezüglichen Funde im → „Bargfelder Boten“. In der 1985 gegründeten → „Gesellschaft der Arno Schmidt-Leser“ haben sich Menschen aus allen Berufsfeldern zusammengefunden, um Ähnliches zu tun. Längst geht es nicht mehr nur um versteckte Zitate und Anspielungen. Arno Schmidt selbst ist zum Kriminalfall geworden, zum Gegenstand von Hobbyschnüffeln, die die Zeichen der Bücher zu lesen versuchen, um ihres Urhebers habhaft zu werden. Schmidts Manie, jedes Detail seiner Schilderungen dem „wirklichen Leben“ zu entnehmen, ist eine der Quellen des Forschertuns. Wenn Schmidt schreibt, das Haus stehe da und da, habe diese und jene Farbe, dann stimmt das. Selbst die Mondauf- und untergänge sind exakt – und so sie es einmal nicht sind (wie im „Steinernen Herz“ von 1956), dann hat das seinen Grund.
Zwar gibt es im „Kriminalfall Arno Schmidt“ kein Verbrechen. Aber seit Jahrzehnten Mysterien genug, um Menschen zu Detektiven werden zu lassen, die sich nichts Größeres vorstellen mögen, als ein Indiz richtig gedeutet, einen Sachverhalt aus dem Verhau der Sprache gelöst zu haben. Wenn ihr also mal keine Krimis lesen wollt, dann könnt ihr hier selbst in einem mitspielen. Und lasst euch nicht entmutigen: Schmidt-Lesen gilt als schwierig, aber alle, die sich haben einfangen lassen, waren am Anfang genau so doof wie ihr. Schreiber dieses eingeschlossen.

So. Schülermails sind wie stets willkommen, die nächste Lektion wendet sich nun aber wirklich mal einem Krimiklassiker zu oder, präzise, zweien.

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